Die Totenwache

In einigen Orten Unterinntals bezeichnet man die Arbeit, die jemandem zugemessen wird, mit dem Worte "Schicht". Daher kommt es, daß man diesen Ausdruck auch für den Gruß gebraucht. "Hast nicht Schicht?" will sagen: Bist du mit deiner Arbeit nicht fertig? "Laß einmal Schicht!" hört man demjenigen zurufen, der nach Feierabend noch arbeitet.

Wenn die Abendglocke "Schichtum" verkündet, muß die Seele des tagsüber zuletzt Verstorbenen in den Freithof wandern, um jene Seele, welche dort die Totenwache hat, abzulösen. Die Totenwache ist nun nach dem Glauben der Leute das schwerste Stück Arbeit, das je erdacht werden könnte und mancher Sterbende fragt noch in bitterer Angst vor seinem Tode, ob niemand in der Gemeinde schwer krank und dem Tode nahe sei und getröstet schließt er die Augen, wenn er hört, daß er bald seinen Nachfolger findet, der ihn in der Totenwache ablöst. ... Denn der Totenwächter hat eine schwere Aufgabe, die armen Seelen ins Fegfeuer hineinzuführen und den Höllenhund von den Schädeln im Friedhofe abzuhalten. Gelingt es dem aber, dem Totenwächter einen Schädel abzujagen, so gehört auch die Seele desjenigen ihm, dessen Schädel er erbeutet hat, und ein neues Strafgericht geht über die wachehaltende Seele. Auch alle anderweitigen Störungen muß der Totenwächter vom Friedhofe fernhalten, mögen sie nun von Menschen oder Tieren verursacht werden. In der Wildschönau und an anderen Orten kam es früher nicht selten vor, daß irgend ein mutwilliger Bauernknecht in der Nacht auf den Friedhof schlich, um ein Totenbein zu stehlen, das er dann als Zaubermittel gebrauchte. Am schlimmsten stand es um die Totenwache, wenn es einem Lebenden gelang, um die Mitternachtsstunde die Totenbahre im Friedhof umher zu ziehen, wodurch man reich zu werden glaubte, denn in diesem Falle wurde die wachehaltende Seele verurteilt, bis an den jüngsten Tag zu spuken.

Vor der Totenwache haben aber die Leute meist eine entsetzliche Furcht, und selten getraut sich jemand nach dem Betläuten am Abend noch auf den Friedhof. Ist einer im Leben nicht gut auf Verstorbene zu sprechen gewesen, dann wagt er es nicht einmal, nach dem Betläuten beim Friedhof vorbei zu gehen.

   J. A. Heyl

Quelle: Der Sagenkranz der Wildschönau, in: Heimat Wildschönau, Ein Heimatbuch, Dr. Paul Weitlaner, Schlern-Schriften Nr. 218, Innsbruck 1962, S. 125 - 155.
Siehe auch: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897, Nr. 16, S. 59