Das Geigerlein unter den Hexen
Die Leute in Wildschönau wissen noch allerlei Geschichten von Hexen zu erzählen, d. h. die alten, denn die jungen glauben nimmer dran. Gar übel pflegten von alters die Hexen in der Weihnacht den anderen Menschen mitzuspielen, und wer zur Christmette ging, mußte von den Unholden viel Zauberspuk erdulden.
So begab sich einmal in der Christnacht ein gar lustiges Geigerlein vom Innertal zur Mette nach Oberau. Er hatte ein mächtiges Kenteltrumm in der Hand, das ihm auf den Weg leuchtete. Das Männlein trug aber seine Geige mit sich unterm Arm, denn es gedachte bei der nächtlichen Feier ein wenig mitzugeigen. Da kam es auf dem Wege an einer Brechelstube vorbei und sah vor der Tür derselben eine Brechel stehen. Das war sonderbar, und gleich stieg im Geigerlein der Gedanke auf, die Brechel da könnte wohl gar eine verwandelte Hexe sein. Die Hexen, dachte es, nehmen den kürzesten Weg durch die Luft, und da das Männlein schon ein wenig müde war, setzte es sich auf die Brechel. Leiten werde ich das Ding schon können, meinte es, wenn es zu fliegen anhebt. Und die Brechel hub wirklich zu fliegen an und flog so schnell wie der Wind talauf, aber das Männlein vermochte sein Reitpferd nicht zu lenken, wie es vermeint hatte. Die Brechel trug es auf den Lemmersberg und ließ sich dort oben gemach zur Erde nieder.
Das Geigerlein stieg ab und gewahrte bald zahlreiches Hexenvolk, das ihn im Kreise umstellte. Alle führten sie ihre Hausbesen bei sich, auf welchen sie heraufgeritten waren.
Nach einer Weile hüben sie einen Tanz an, und das Geigerlein mußte
wohl oder übel dazu eines nach dem andern aufspielen. Endlich kam
gar der Herr Satan in seinem Sechsspänner angefahren, und nachdem
ihn die Hexlein so eine Weile hofiert hatten, ging das Hopsen von neuem
los. Das Geigerlein war vom Spielen müde geworden, und noch immer
war kein Aufhörens. Da kam ihm ein schlauer Einfall. Er spielte auf
einmal keinen Hopser mehr, sondern die Arie: "Himmel, tauet den Gerechten!"
Im Nu war der Spuk zerstoben, das Geigerlein aber saß auf der äußersten
Spitze eines überhangenden Felsens und mußte geduldig da sitzen
bleiben, so schneidig auch, der Wind blies, bis es Tag wurde. Erst da
konnte es sich aus seiner gefährlichen Lage ziehen.
Adolf Mühlegger, Dorfschule 1960
Quelle: Der Sagenkranz
der Wildschönau, in: Heimat Wildschönau, Ein Heimatbuch, Dr.
Paul Weitlaner, Schlern-Schriften Nr. 218, Innsbruck 1962, S. 125 - 155.
Siehe auch: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt
und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897, Nr. 78, Seite 110