VON DEN WICHTELN AUF DEM ZAUBERWINKEL BEI WÖRGL
(Eine Legende, niedergeschrieben von Georg Opperer)

Als die ersten Menschen das Paradies verlassen mußten, weil sie Gottes, ihres Schöpfers Zorn auf sich geladen, begaben sie sich auch aus dessen schützende Hand. Sie waren von nun an auch sich selbst überlassen. So auch alles Getier. Die Elemente, die im Paradies allen Lebewesen zum Fortkommen dienstbar waren, wurden zügellos und ihnen zur Plage. Die Welt verlor ihr paradiesisches Aussehen, verödete, zum Teil erstarrte sie. Die aus dem Paradies vertriebenen Kreaturen krabbelten hilflos darauf herum.

Der liebe Gott, dessen Groll bald verflogen war, erbarmte sich ihrer und er segnete sie mit Mut und Unternehmungsgeist. Mit den vielen und verschiedenartigen Wünschen, die diese Tugenden in den Menschen erweckten, beseelte er Feen und Wichtel und gab sie ihnen als geistiges Werkzeug bei, doch sollten die Vorteile, die den Menschen daraus wuchsen, der Bestimmung, "ihr Brot im Schweiße ihres Angesichtes verdienen zu müssen", keinen Abbruch tun.

Im Vorwärts- und Auseinanderstreben der Menschen, deren immer mehr wurden, entstand in einem Troß derselben das Verlangen, der Wunsch, sich auf einem bestimmten Fleck der Erde (dem nachmaligen Tirol) seßhaft zu machen. Hier war aber noch (oder wieder) alles ganz mit Eis bedeckt. Die Wichtel ventilierten das Feuer des Erdinneren dahin und schalteten die Sonnenstrahlen darauf nieder. Es begann zu apern. Schneerosen und Schneeglocken, die schon blühten, senkten ihre Häupter und machten mit den Stengeln einen Buckel und sprengten damit den letzten Rest der eisigen Umhüllung. Die Natur erwachte! Und rasch wurde die fruchtbare Erde mehr und mehr frei. Feen streuten Samen von Blumen und Gräsern aus dem Garten Gottes darüber aus; die schönsten, zartesten und seltensten Blumen und Kräuter aber verpflanzten sie auf die Berge, denn - so meinten sie - die Menschen, die nur auf ihr leibliches Wohl bedacht seien und alles, über das sie sich erhaben fühlen, sich unterordnen, sich nutzbar machen und umbringen, würden sie achtlos zertreten oder dem Vieh preisgeben. In den Bergen wußten sie dieselben sicherer. Sie gaben ihnen Namen und unterrichteten sie über ihr Fortkommen, ihr Wesen und ihre Art, damit sie sich den Menschen vorstellen können, wenn diese einmal feinsinnig genug sind, sich an ihrem Anblick zu erfreuen und sie kennenlernen wollen.
So entstand die Alpenflora Tirols.

Die Wichtel wiesen dem Tauwasser aus den Gletschern bestimmte Wege, damit es nicht beliebig abfließe und alles verwüste.
Dadurch bildeten sich Schluchten und Seen.

Sie fingen Sonnenstrahlen ein, machten sie flüssig und gossen sie über die noch brüchigen Felsen aus. Darin erhärteten sie sich zu Gold. In gleicher Weise zauberten sie die Strahlen des Mondes als Silber in die Berge. Aus den Abfällen wurde Kupfer, Eisen und Blei.
Daraus wurden die Tiroler Erzlager.

Die Menschen verlangten nach Metallen, darum sorgten die Wichtel für das Vorkommen solcher. Aber die Gewinnung derselben sollte schwer fallen und kostet deshalb noch allerhand Mühe und Fleiß.

Diese Arbeiten dünkten die Wichtel überaus nützlich. Sie lachten über die Sorgen der Feen und ihre Blumen und schalten sie ob ihrer Tändelei. Aber einige unter ihnen fand das Kulturahnen, das die Feen verrieten, Beifall. Sie schlossen sich ihnen an. Den Platz, auf dem sie durch das Beispiel der Feen zur Kulturarbeit bekehrt wurden, nannten sie "Zauberwinkel".

Er liegt auf dem Bergrücken, der die Wildschönau vom Inntal trennt, in der Nähe von Wörgl. Von hier aus zerstreuten sich die Wichtel in alle Winde. Vor allem waren sie darauf bedacht, daß in den Menschen, über deren Sorgen um des Lebens Notdurft hinaus Frohsinn und Lebenslust aufkomme.

Sie schlichen zur Nachtzeit zu den in ihren aus Stein oder Holz erbauten Wohnstätten schlafenden Menschen, flüsterten ihnen zu Liedern gereihte Worte ein über ihr Dasein, ihre Lebensweise und über die sie umgehende Natur. Und Töne, auf daß sie dieselben in schönster Ausdrucksform, singend, vortragen können.
Das ist der Ursprung der Volkslieder- und -spiele.

Von da ab wurden die Menschen froh und freuten sich des Lebens trotz aller Mühen und Gefahren, die es mit sich brachte. Und eingedenk dem Kulturrahmen der Feen machten die Wichtel auf alle Bauten, Waffen, Werkzeuge und Geräte, deren sich die Menschen bedienten, Zeichen, damit deren Entstehung und Eignung für alle Zeiten richtig erkenntlich sei, und legten so den Grundstein zu Erfolgen wissenschaftlicher Forschungen kommender Menschengeschlechter.
Hier konnten die Jünger der Heimatkunde ihre Schürfeisen ansetzen.

Auch um die Gesundheit der Menschen waren sie besorgt. Z.B. auf dem Zauberwinkel bohrten sie sonnseits den Berg an und entlockten ihm schwefelhaltiges Wasser.
Daraus werden die Wildschönauer Bäder gespeist.

Schattseits vom Zauberwinkel, auf dem Buchboden und um den Eisstein, ließen sie flüssig gemachte Sonnenstrahlen in das Erdreich tropfen. Die Quellen, die in diesem Gebiete entspringen, sind davon durchsetzt. Ihr Wasser fließt als Altreinbach zu Tal. Es ist das Heilwasser des Wörgler Badl, genannt "Eisenstein". Und noch viel anderes schufen sie allerorts zum Heil der Menschen.

Die Zeit eilt, die Menschen werden immer gescheiter, sie weichen immer weiter von den Wegen ab, die ihnen von altersher vorgezeichnet sind, gehen achtlos über die Spuren der Entwicklung ihrer Kultur hinweg, verwischen diese vielfach. Sie horchen auf keinen Rat mehr und bereiteten so den Wichteln statt Vergeltung Verdruß um Verdruß. Diese sahen sich bemüßigt, ihre Werke, die sie für die Menschen geschaffen, vor denselben zu beschützen, es schien, als ob ihr Dasein nun nur mehr dieser Aufgabe gewidmet sein sollte.

Sie waren wieder einmal auf dem Zauberwinkel versammelt, um zu beraten, wie sie sich darin teilen, da zogen sangeslustige, für Natur und Volkstum begeisterte Wanderer über diesen Bergrücken. Die Wichtel erkannten sie als feinsinnige Menschen, deren Kommen die Feen geahnt; Menschen die alles Zeitgeschehen, alles Singen und Sagen, das Sprudeln der Bäche, das Rauschen der Bäume, die Blumen, die wir zum Gruß und deren Pracht wir zur Schau bringen, sehen, belauschen und verstehen! Aus diesen ging die Prem - Runde hervor und die Männer um die "Tiroler Heimatblätter". In ihre Hände gaben die Wichtel auf dem Zauberwinkel ihre Sache, sie fanden sich vollendet und erlöst!

Georg Opperer in: Tiroler Grenzbote, 1935; von Gottfried Opperer freundlicherweise zur Verfügung gestellt