Nach St. Georgenberg
Von Georg Obrist.
(mit Abbildung.)

In schöner Sommerszeit, da "Alles geht und fährt", wirst Du mir's, lieber Leser, nicht verargen, wenn ich Dich zu einem frischen Morgenspaziergange nach der uralten Wallfahrt St. Georgenberg einlade.

Wallfahrt? Denkst Du und schaust mich mißtrauisch an.

Ja, Wallfahrt! Davor soll ein andächtiger Christenmensch gerade nicht erschrecken, und wenn Du schon einmal ein eitel Weltkind bist, das auf derlei fromme Bräuche nicht viel hält, komm' nur doch mit! Es wird Dir auch nicht schaden, dem blauen Himmel einmal um ein gut' Stück näher zu treten; in hocheinsamer Gebirgswildnis wird das Herz oft gar wundersam gestimmt und wieder empfänglich gemacht für Gefühle, die man im prosaischen Stadtgeräusche für längst ausgeklungen hielt. Jedenfalls wirst Du da oben Dein Auge letzen und Deinen Sinn ergötzen, wie kaum anderwärts.

Wenn ich früher das Wörtlein Gebirgswildnis fallen ließ, braucht Dir eben auch nicht bange zu sein; Du mußt Dich keineswegs mit Steigeisen bewaffnen und kannst sogar den Bergstock getrost zu Hause lassen. So Du etwa gar ein Berliner Sandkind wärest, sei Dir schon jetzt zu wissen getan, daß es auf dem steilen Felsenkegel, auf dem ich Dich zu führen gedenke, keine Jemseneier [Gemseneier] auszunehmen und keine Rehfedern zu holen gibt. Man weiß da droben noch von Zivilisation, und neben dem gesunden, klaren Brunnenwasser quillt auch noch ein anmutig rotes Brünnlein, welches seinen Ursprung von den blühenden Ufern der Etsch ableitet. Du verstehst mich wohl?

Also lustig auf und vorwärts, ist es auch noch früh am Tage! Denn:

"Wer recht in Freuden wandern will,
Der geh' der Sonn' entgegen;
Da ist's im Wald so kirchenstill,
Kein Lüftchen mag sich regen.

singt Geibel, und wer diesem edlen Sänger hierin je gefolgt, wird ihm unbedingt Recht geben müssen.

Wir brechen von Schwaz, wo wir übernachtet haben, auf und begeben uns über die hölzerne, durch den letzten vergeblichen Widerstand der flüchtigen österr. Truppen (nach der Schlacht bei Wörgl, 1809) merkwürdig gewordene Brücke, an das linke Innufer; das erste, was uns hier in's Auge fällt, ist ein stattliches Gebäude, "das Spital", und die dazu gehörige nicht sehr große Kirche, deren einfache und ziemlich reine Gotik den Beschauer anspricht. Von hier aus müssen wir uns entweder nördlich oder östlich wenden; wir ziehen das erstere vor. Nachdem wir die "Langgasse", eine kleine Vorstadt von Schwaz, passiert, gelangen wir in die "Vomperfelder", so heißt ein weiter, fruchtbarer Acker- und Wiesengrund, welcher von dem mehr nordwestlich gelegenen, wohlhabenden Dorfe Vomp den Namen trägt.

Letzteres, gar lieblich aus dichten Obstbaumwipfeln hervorlugend, lehnt sich an einen Sandhügel an, den das an sich alte, in jüngster Zeit aber durch den dermaligen Besitzer, Herrn von Riccabona, geschmackvoll restaurierte Schloß "Sigmundslust" krönt. Die Lage desselben und die prachtvolle Aussicht, welche man von dessen Erkern genießt, zeigt zur Genüge, daß der lebensfrohe Erzherzog Sigmund, zubenannt "der Münzreiche", der es sich voreinst zur "Lust" erbaut, nicht bloß weibliche, sondern auch landschaftliche Reize wohl zu würdigen wußte.

Unwillkürlich fühlt man sich, vorausgesetzt, daß man ein guter Österreicher sei, bei dem Anblicke dieser Burg und der Erinnerung an deren fürstlichen Erbauer an die gegenwärtigen traurigen Finanzzustände des Kaiserreichs gemahnt. Wann, denkt man, wann wird etwa wieder die Zeit kommen, in der man einem Regenten aus dem Hause Österreich abermals dm Namen eines "Münzreichen" beilegen wird? Und wird sie überhaupt wohl kommen? Doch, wozu solche unnütze Fragen an die Zukunft! Wenden wir dafür lieber unsere Augen nach rechts, von welcher Seite sich das stattliche, auf einer sanften Anhöhe thronende Benediktinerstift Fiecht (1869 am 21. Juni abgebrannt, aber jetzt wieder aufgebaut) präsentiert. Wahrlich auch die frommen Patres, welche in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den damals von Feuersbrunst und Lawinen verwüsteten Georgenberg verließen, um sich hier bequemer anzusiedeln, verstanden sich auf malerisch gelegene Punkte.

Doch es gilt jetzt einigermaßen auszugreifen, damit wir nicht auf dem steilen und anfangs schattenlosen Pfade, der sich links vom Dorfe Fiecht nach St. Georgenberg hinzieht, von der Sonne überrascht werden. Das erste Drittel des Weges ist ziemlich beschwerlich, und die dunkeln Fichten und Tannen, welche denselben einsäumen, könnten uns von manchen tiefen Seufzern und dicken Schweißtropfen andächtiger, wohlbeleibter Pilger und Pilgerinnen erzählen.

Oben ist er breit und nicht steinig. Wir aber sind guten Fußes und frohen Mutes und haben bald das Ende dieser Mühsal erreicht, welches in einer Rastbank besteht, von der aus man einer entzückenden Aussicht auf Schwaz und einen guten Teil des von diesem Markte an abwärts gelegenen Unterinntals genießt.

Dazu noch ringsum blitzende Tauperlen, würzigen Harzduft, zwitschernde Vögel, blauen Himmel und darin die soeben aufgegangene Sonnenscheibe, - Herz, was verlangst du mehr?!

"Ein solides Frühstück!" höre ich da einen prosaischen Begleiter dazwischenmurmeln; nun gut, auch dazu kann Rat werden, doch müssen wir noch ein Viertelstündchen daran wenden, bis wir nach "Weng" gelangen.

Bald lacht uns aus saftigem Junggehölz die "Wengerkapelle," ein altes, gemauertes Bildstöcklein entgegen; es enthält ein kleines Gemälde, Maria Himmelfahrt darstellend, und trägt am Giebel den biblischen Spruch: "Eng ist die Pforte und schmal der Weg etc. etc."

Diese Worte treffen aber hier nicht ganz zu, denn der Pfad erweitert sich von da an zusehends und leitet sogar eben an hellgrünen Bergwiesen und sonnigen Holzschlägen vorüber zum Bauernhöfe "Weng" (zweifelsohne vom alten Worte wang - Niederlassung, Gehöfte - herrührend).

Hier findest Du nun einen frischen Schluck Wasser, wenn Du es nicht vorziehst Dir von der Bäuerin einen Trunk kuhwarme Milch samt "Türkenbrod" [Maisbrot] als Frühstück kredenzen zu lassen. Auch Obstbäume findest Du hier, vielleicht ist es gar noch Kirschenzeit, und da kann es Dir dann nicht fehlen, eine Erfrischung zu erhalten.

Ehe wir dieses Ruheplätzchen verlassen, wollen wir noch den Blick auf den gegenüberliegenden, dichtbewaldeten Bergrücken lenken; man nennt ihn im Volke die "Burg", und die Sage behauptet hartnäckig, hier sei es gewesen, wo man in grauer Vorzeit den ersten Grund zum Kloster St. Georgenberg gelegt habe. Wir werden noch darauf zurückkommen und nun wieder den angenehmen, breiten, im Zickzack sich an der linken Bergseite hinschlängelnden Waldpfad, der durchaus nichts Beschwerliches an sich hat, weiter verfolgen.

Diese Strecke ist in vielfacher Beziehung annehmlich, zu durchpilgern. Der sanft ansteigende Pfad wird bald zum kühlen, von Haselsträuchen und allen möglichen andern Buscharten eingesäumten Hohlwege, bald zum schattigen, ebenen Sträßchen. Zur Rechten schaust Du in kleine Talmulden voll der üppigsten und wildesten Vegetation; auf der Linken hast Du mäßig steile, über und über dunkel bewaldete Bergrücken.

Die Forste, Eigentum des Klosters Fiecht, sind durchgehend reinlich gehalten und gut gepflegt; die Aufsicht über dieselben ist einem kundigen Conventualen des oberwähnten Stiftes übertragen, und der betreffende Pater, vom Volkswitze insgeheim "der Waldhüter" genannt, spart wirklich keine Mühe, das seiner Obsorge anvertraute Revier in gutem Stand zu erhalten; die Säuberung desselben wird wohl größtenteils von Freiwilligen übernommen, d. h. die hoffnungsvolle Jugend des Schwazer Plebs requiriert sich den Holzbedarf für den häuslichen Herd ihrer Eltern vornehmlich aus dem Reisig und abgestorbenen Unterholze dieser Forstregion. Wir begegnen ganzen Truppen solcher Fouragiere, den mächtigen Rückkorb auf den Schultern, und ein Bündel dürren Astwerks Hintennach schleppend. - Doch steh! Was lugt denn dort Weißes aus der sattgrünen Dämmerung der Tannen und Föhren?

Es ist die "Freimarter", eine viereckige, gemauerte, mit einem hölzernen Dächlein gegen schädliche Witterungseinflüsse gesicherte Säule, welche mit den Wappen der alten Geschlechter Freundsberg, Seeben, Schlüters und Aibling geschmückt ist.

Der Sage nach soll sich an diesen Pfeiler ein gewisses Asylrecht geknüpft haben und jeder Verbrecher oder überhaupt Verfolgte soll "frei" gewesen sein, wenn es ihm gelang, diese Säule zu erreichen, ehe er von den Häschern eingeholt wurde. Daher ihr Name. Wahrlich, unsere mittelalterlichen Altvordern, denen man so vielfältig einen unbändigen Hang zu Grausamkeit und Gewalttat zuschreibt, waren in gewissen Punkten doch sehr mildherzig und erbarmungsreich! Wie mancher Wildschütze, wie mancher Zeitungsredakteur dürfte sogar annoch eine sothane [sic] Einrichtung schön und praktisch finden! Doch - tempi passati!

Hier ist zugleich ein schöner Aussichtspunkt. Wende Dich nach Osten, da siehst Du einen wunderlieblichen Fleck des reizenden Unterinntals. Der in den Strahlen der Frühsonne wie flüssiges Silber blitzende Strom, welcher sich in vielfachen Windungen durch duftete Erlenwäldchen hindurch zieht, - die in der Mitte des Tales auf kleinen Hügeln thronenden Burgen Kropfsberg, Lichtwehr, Matzen, - der malerisch gelegene Rothholzer Tiergarten, - rechts in der Höhe die graubraune Ruine Rottenburg, - links im Vordergrunde das prächtige Schloß Tratzberg, das aus der Mitte hellgrüner Buchenwipfel gar stolz emporragt u. s. w. Wie schön, wie herrlich! Bis Rattenberg hinunter schweift der bewundernde Blick und gesteht, daß dieses Plätzchen wirklich ein Asyl sei, - ein Freiplatz, wo sorgenverdüsterte Gemüter Ruhe finden müssen.

St. Georgenberg im Stallental, Tirol

St. Georgenberg im Stallental

Noch ein paar Schritte weiter - und Deinen Augen steht eine neue Überraschung bevor. Du siehst nämlich hier zum ersten Male St. Georgenberg in schwindelnder Höhe auf seinem abschüssigen Felsen. So steil! ist Dein erster Gedanke. Wie werde ich da hinaufkommen, zumal der Weg sich jetzt so rasch talab senkt? Nur Geduld! Es wird so arg nicht werden; ich erzähle Dir indess, bis wir zum Rinnsal des dumpftosenden Stanserbaches hinuntergelangen. Einiges von der sagenhaften Urgeschichte unserer Wallfahrt; sie hat mehr Romantisches an sich, als tausend andere, und dürfte allfälligen Nachahmern von Scheffels "Ekkehard" als gar nicht unlohnender Vorwurf dienen. -- Vernimm also:

Es war beiläufig um die Mitte des 9. Jahrhunderts, als sich ein angesehener und reichbegüterter Ritter zu Aibling (in Baiern) entschloß, heimlich Hab und Gut, Familie und Freunde zu verlassen, um in einer der unzugänglichsten, rauhesten Schluchten Nordtirols ein frommbeschauliches Einsiedlerleben zu führen. Rathold, so war sein Name, gelangte auf seiner, zu diesem Behufe unternommenen Wanderung, in die Gegend des heutigen Georgenberg und erkor daselbst eine Felsengrotte, vor welcher eine mächtige Linde ihr laubdunkles Astwerk, ausspannte zur künftigen Eremitage. Sein gottseliger Sinn trieb ihn aber, ehevor er sich diese abgeschiedene Höhle zur bleibenden Ruhestatt erwählte, noch an, nach den Gräbern der Apostelfürsten in Rom und zu den Gebeinen des heil. Apostels Jakobus in Compostella zu wallen.

Von dieser weiten Pilgerfahrt brachte er nun das schöne Bild der schmerzhaften Gottesmutter mit, das noch gegenwärtig den Hochaltar des Georgenbergs ziert, und das schon in der Mitte des 10. Jahrhunderts allenthaben in der Umgegend als besonders wundertätig gepriesen, besucht und verehrt wurde.

Rathold stellte dasselbe vorerst unter seiner Grottenlinde auf, woher es dann den Namen: "Unsere liebe Frau unter der Linde" erhielt.

Da traf es sich, daß des Einsiedlers Bruder Ubald, ein überaus fröhlicher und lebensluftiger Nimrod, eine Jagd in dieses Gebirge unternahm. Von ungefähr entdeckte er die stille Klause seines Bruders, erkannte denselben und ließ sich alsbald bereden, auf gleiche Weise der Welt und ihrem nichtigen Treiben abzuschwören. Außerdem gelobte er den Bau einer Kapelle, als würdigere Herberge für die "Lindenjungfrau", und einer Einsiedelei zur bequemeren Unterbringung der frommen Besucher in stürmischer Jahreszeit.

Die Ritter von Freundsberg, Seeben und Schlitters versprachen ihre Mithülfe [Mithilfe] und beschenkten in der Tat die junge Stiftung sehr reichlich.

Nur wollte man oberwähnte Neubauten in eine wohnlichere Gegend verlegen, und dazu schien die "Burg", deren wir schon bei "Weng" gedacht haben, am geeignetsten. Aber siehe! die bei der Grundlegung beschäftigten Zimmerleute hieben sich fortwährend in Arme und Beine, und Raben erschienen, welche die blutigen Holzspäne in den Schnäbeln von dannen trugen. Allmälich wurde man darauf aufmerksam, verfolgte mit den Blicken den Flug der Vögel, ging ihnen nach und fand endlich auf dem steilen Felsenprisma, auf welchem derzeit das Kloster steht, die "vertragenen Schatten" (Holzabfälle) in der Form eines Häuschens, wie selbe spielende Kinder gerne zu bauen Pflegen, aufgeschichtet.

Dieser wunderbare Wink von Oben wurde für die frommen Stifter maßgebend.

Bald erhob sich an jenem unwirtlichen Platze Kirchlein und Zelle; Rathold's Name und sein Ruf der Gottseligkeit zog bald gleichgesinnte junge Männer heran - und das Kloster war gegründet. Der Name "St. Georgenberg" rührt von einer Reliquie des heil. Georg her, mit welcher dasselbe von Rom aus beschenkt wurde. Die junge Religiosen-Gemeinde wuchs und gedieh und wurde später die Mutter der Benediktiner-Abtei Fiecht (wahrscheinlich von Geviecht - Viehzuchthof).

Dies das Wesentlichste der Stiftungssage, in welcher uns nur die prophetischen Raben bedenklich erscheinen; denn wir unsererseits sind ungläubig genug, dieselben auf die deutsche Götterlehre zurückzuführen,

Doch sei dem, wie ihm wolle! Zu bemerken ist nur noch, daß Bruder Rathold anfänglich nicht auf dem nämlichen Felsen gehaust hat, der gegenwärtig der Wallfahrtskirche zur Basis dient, sondern auf einem früher erreichbaren, Weniger steilen, dessen Spitze noch vor einigen Jahren ein hohes schwarzes Kreuz als solchen kennzeichnete.

Doch wir müssen in unserer Erzählung abbrechen; das Brausen des ungestümen Wildbachs, den wir eben überschreiten, würde uns daran hindern. Und nun bergan!

Du wähntest, lieber Begleiter, es sei nicht möglich, den schroffen Felsen zu erklimmen, und ich sagte Dir, es sei nicht schwierig; das Rätsel ist nunmehr gelöst:

"Es schwebt eine Brücke, hoch über den Rand
"Der furchtbaren Tiefe gebogen!

"Der Strom braust unter ihr spat und früh,
"Speit ewig hinauf und zertrümmert sie nie!"

Der Aufstieg zu dieser Brücke ist, wenn auch einigermaßen steil, so doch immerhin sehr gangbar. Sie wird von drei gewaltigen, von unten auf zur Hälfte gemauerten, vierseitigen Stützpfeilern getragen, besteht übrigens aus Holz und ist gedeckt. Am Eingange befindet sich das Torwarthäuschen.

Verweilen wir einen Moment auf der Brücke, um uns ein wenig auszuschnaufen und in den schwindelerregenden Abgrund zu schauen, über welchen sie gespannt ist. Jene hohe nackte Wand dort, von welcher der Bach herabschäumt, ist zugleich der Schauplatz einer lieblichen Legende, die unser vaterländischer Dichter Pius Zingerle in hübsche Verse gebracht hat, die aber trotzdem unbekannt sein dürfte; in letzterem Falle magst Du sie von mir in Prosa vernehmen.

Ein unschuldiges Mädchen aus der nächsten Umgegend, das der Gottesmutter in absonderlicher Verehrung zugetan war, wollte der "Lindenjungfrau" drüben einen Kranz von Jochprimeln (vulgo Platenigeln) zum Opfer bringen. Die Jahreszeit war noch wenig vorgerückt, und nur auf jener jähen Wand waren einige jener goldgelben duftigen Dolden zu erblicken. Das Kind befahl sich dem Schütze Marien's und klomm unverzagt zur gefährlichen Stelle hinüber; kaum daselbst angelangt, glitt es aus und stürzte kopfüber in den grausen Abgrund. Doch, o Wunder! Als die Leute, welche mit Bangen von Ferne zugeschaut hatten, talnieder stiegen, um des Mädchens verstümmelte Leiche zu suchen, hüpfte es ihnen fröhlich entgegen und versicherte sie, daß es durch den Fall nicht im Mindesten belästigt oder verletzt worden, sondern daß ihm die unfreiwillige Luftfahrt sogar so angenehm vorgekommen sei, als wäre es getragen worden. -

Von da ab haben wir in wenigen Schritten das Hauptziel unseres Spazierganges erreicht. Rechts vom Wege erhebt sich ein kleines Kirchlein samt Glockenturm - die "alte Kirche"; auch der Friedhof, in welchem die ehemaligen Conventualien beigesetzt wurden, liegt auf dieser Seite.

Die eigentliche Wallfahrtskirche hingegen liegt zur Linken und ist ein ziemlich geräumiger Bau, dessen Äußeres schmucklos, dessen Inneres eben nicht unschön zu nennen ist. Die Deckengemälde boten früher einen gräulichen, tragikomisch wirkenden Anblick; doch sind in neuerer Zeit die grotesken, zu nichts weniger als zur Andacht stimmenden Bilder, welche hauptsächlich die Marter des heiligen Georgius darstellen sollten, glücklicherweise ausgemerzt und durch natürlichere ersetzt worden.

An beiden Langseiten ziehen sich Galerien hin; Seitenaltäre und Kanzel und zum Teil auch der Hochaltar sind im allegorisirenden Geschmacke der Zopfzeit gefertigt und tragen nichts Außerordentliches an sich.

Ungemein lieblich aber ist das Gnadenbild der Lindenjungfrau, welches den Ehrenplatz oberhalb des Tabernakels einnimmt, und zu dessen beiden Seiten sich die Statuen Rathold's und Ubald's befinden; wahrscheinlich kennst Du es schon aus den unzähligen Abbildungen, welche davon verbreitet sind.

Und nun, andächtiger Begleiter, will ich Dich einen Augenblick Deinen frommen Betrachtungen und Anmutungen überlassen und zur etwaigen Nachhilfe das Gedicht eines renommierten Tirolerpoeten hersetzen, welches vor Jahren an dieser Stätte des Heils entstanden ist.

Der gedachte Poet ist Hermann v. Gilm, und nachfolgendes Produkt seiner gewandten Feder ist bislang noch anderweitig wenig bekannt; es lautet:

Auf St. Georgenberg

Ich war bei Dir auf jenem Bergespfade
Zum Wallfahrtsort; mein Arm hat Dich geführt;
Sie sagen, droben sei ein Bild der Gnade,
Das Wunder wirkt, von Menschenschmerz gerührt.

Ich kniete neben Dir im Kirchenstuhle,
Zum Gnadenbilde sah ich andachtsvoll
Und betete, daß es die Leidensschule
Der Liebe bald mir enden soll.

Mag uns dieses Gebet auch gar seltsam vorkommen, - wir wollen ihm eine gewisse Berechtigung zuerkennen und bescheidentlich denken: Heute mir, morgen Dir! Jedenfalls wirst Du ihm Zartheit und Innigkeit nicht absprechen können. Nach dieser dichterischen Abschweifung laß uns die vielfach sehr prosaischen und ebenso zahlreichen Votivtafeln, welche rings in musterhafter Ordnung an den Wänden herum gruppiert sind, betrachten.

Einige darunter sind bemerkenswert, nicht der Ausführung halber, sondern nur ob des Inhaltes der Darstellung. Auf einer derselben z. B. befindet sich die Geschichte vom "hl. Blute". Ein junger Priester, der einmal hier das Meßopfer verrichtete, ließ sich während der Consecration des Weines vom Zweifel an der wirklichen Umwandlung der Gestalten, wie solche nach dem Ausspruche der Kirche stattfindet, übermannen; alsbald soll der weiße Opferwein Blutfarbe angenommen haben und aufwallend über den Kelch geflossen sein; man faßte einen Teil desselben in einen gläsernen Zylinder, den man dann in einer steinernen Monstranz der Verehrung aussetzte, was auf Verlangen auch noch jetzt geschieht. Auf mehreren andern Gemälden ist die viermalige gänzliche Zerstörung des Ordens- und Gotteshauses durch Feuersbrunst (in den Jahren 1284, 1450, 1637 und 1705) veranschaulicht.

Nachdem Du andächtig gewesen und Dir Alles wohl angesehen, magst Du nun auch für des Leibes Notdurft folgen; ein Glas guten Tirolers wird Dir nach unserem anstrengenden Fußmarsch in solch' frischluftiger Höhe doppelt munden.

Die Aussicht vom freundlichen Gastgarten ist ziemlich beschränkt; Du hast die weitläufigen Schutthalden der aufgelassenen Schwazer Bergwerke vor Augen und rings in der Nähe nur schroffe Felsenzacken, die sich behaglich zu sonnen scheinen; und es ist ihnen wohl zu gönnen; sind sie ja den größeren Teil des Jahres von Schnee und schneidenden Nordwinden heimgesucht.

Zum Rückweg können wir nun unsern alten Weg nehmen. Wir können aber auch viel interessantere Retourwege einschlagen; so z. B. über "Maria Tax" nach Stans, über Tratzberg nach Jenbach, oder gar über das Lampsenjoch in die Hinterriß und von da nach Achental und Bayern u. s. f. Heute tun wir das Erste, die letzteren für eine spätere Wandlung aufsparend.


Quelle: Georg Obrist, Nach St. Georgenberg!, in: Der Alpenfreund, Monatshefte für Verbreitung von Alpenkunde unter Jung und Alt in populären Schilderungen aus dem Gesammtgebiet der Alpenwelt und mit praktischen Winken zur genußvollen Bereisung derselben. HG Dr. Ed. Amthor, 4. Band, Gera 1872, S. 294 - 301.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.