Der Geist vom Wattenberge

In alten Zeiten stand auf dem Wattenberge eine kleine Kapelle, die Mauern mürb und brüchig und die Schindeln faul, von den Wattenbergern auch mehr gemieden als besucht, denn man munkelte, dort war es nicht geheuer; gehe man nachts vorbei, läute ein Glöcklein und an der Kapellenmauer war eine weiße Gestalt zu sehen. Wer kein reines Gewissen habe, sollte sich hüten, dort seinen Weg zu nehmen.

Kapelle am Wattenberg © Berit Mrugalska
Hier die 1985 (neu)erbaute Kapelle der Familie Heumader, Wattenberg
© Berit Mrugalska, 4. Feburar 2005

Einmal nun in der Nacht, da benutzte ein alter Häusler, ein unguter, weitum übel beschrieener Mann, den Kapellenweg, um einen Sack Birnen, die er im Obstgarten des Normerbauern gestohlen, ungesehen in seine Behausung zu schaffen. Auf das Gerede, es geistere um die alte Kapelle, gab er nichts; und sollte ihm 'was Spukhaftes über den Weg laufen, na wenn schon! damit würde er leicht fertig werden. Allein ein so ausgekochter Bösewicht war er denn doch nicht, daß ihm nicht der Schrecken in die Knochen gefahren war, als das Glöcklein zu läuten anhub; und es läutete, solang er mit der Diebeslast an der Kapelle vorbeistrich. Dann, als kein Ton mehr sein Ohr erreichte, vermeinte er, nun war alle Bedrängnis überstanden, und wollte schon frohlocken, so leichten Kaufs davongekommen zu sein; wie er aber zur Seite schielte, weil ihm da 'was Helles zu sein schien, da kriegte er's erst richtig mit der Angst zu tun. Denn über den Hang herab stieg eine weiße Gestalt und kam geradewegs auf ihn zu. "Der Geist!" ächzte der alte Lump und rannte, was ihn die Beine trugen, weiter talwärts. An seiner Türe erst warf er einen Blick zurück, ob der Geist ihn noch verfolge, und da war es schier um ihn geschehen, denn der stand knapp hinter ihm. Mit einem Sprung war der Alte drin in der Hütte, warf die Türe zu und den Riegel vor, schmiß hin in die Ecke den Sack Birnen und fiel auf die Ofenbank und wischte mit dem Ärmel über sein schweißnasses Gesicht.

Glaubt ihr, daß er seinen Verfolger jetzt los war? Der alte Häusler auf seiner Ofenbank glaubte wahrhaftig einen Augenblick lang, er habe gesiegt, und die sauer verdienten Birnen werde er sich schmecken lassen, Stück für Stück. Aber er war mit seinem Hoffen und Wähnen noch nicht bis zu eben diesem Schlüsse gelangt, da tat es einen Schlag gegen die Tür, und noch einen, und Schlag um Schlag, laut, drängend, fordernd, unaufhörlich Schlag um Schlag. Der Alte fuhr auf von der Bank, riß das Fenster auf, packte den Sack Birnen und warf ihn hinaus. Da war es mit einem Male still, so still, daß er sein eigenes Herz schlagen hörte. - Das ist die Geschichte vom Wattenberger Geist.

Quelle: Sagen aus Wattens und Umgebung; gesammelt von den Schulkindern in Wattens und Wattenberg. In: Wattener Buch, Beiträge zur Heimatkunde von Wattens, Wattenberg und Vögelsberg. Schlern-Schriften 165, Innsbruck 1958. S. 309 - 326.