Der Tuxer Riese

Als es noch die "Wilden Fräulein" gab, hatten es die Leute gut. Die Fräulein halfen ja nicht nur bei der Arbeit, sondern schützten auch das Tal vor Unwetter und die Häuser vor Feuer, sie wussten Mittel gegen das Fieber und kannten manch heilkräftiges Kraut. Da war einmal ein grimmiger Riese über das Tuxerjoch hergekommen. Am Talschluss ließ er sich nieder, denn dort wollte er sich ein Haus errichten. Die Talbewohner mussten ihn nicht nur füttern, sondern auch die zum Bau benötigten Steinblöcke herbeischaffen. Der Gedanke an eine solche Nachbarschaft machte den Leuten Sorge, aber niemand wusste Rat, wie man den Riesen wieder loswerden könnte.

Eines Tages stiegen ein paar Burschen hinauf zur Gefrorenen Wand, um für den Riesenbau Felsblöcke zu holen. Dabei trafen sie auf die "Wilden Fräulein", die dort ihre Höhle hatten. Ihnen klagten die Burschen ihre Not, und die scheuen Wesen versprachen Hilfe. Ein paar Tage später brach ein fürchterliches Unwetter los, ein gewaltiger Sturm schleuderte die für den Hausbau gesammelten Felsblöcke in alle Richtungen auseinander. Am nächsten Tag begann der Riese von neuem, Stein auf Stein zu legen. Aber wieder kam ein Sturm und zerstörte das Werk. Er ahnte, wer ihm diesen Streich spielte, und schwor den "Wilden Fräulein" fürchterliche Rache. Bebend vor Zorn spähte er im Gewand herum, da erblickte er sie droben in der Gefrorenen Wand, wo sie ihren Unterschlupf hatten. Schon streckte er seine riesigen Arme aus und kratzte mit seinen Krallenfingern über die Wand herunter. Die Saligen aber waren schneller gewesen und in ihre Höhle geschlüpft. Seitdem zeigt die Eiswand Risse und Sprünge. Dem Riesen aber war der Aufenthalt verleidet. Er stapfte mit schweren Schritten über das Joch zurück und wurde nie mehr gesehen.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 138f.