Frau Hütt

Die Sage von der Frau Hütt ist die bekannteste Tiroler Sage, viele haben sie poetisch behandelt, sie ausgeschmückt und sie dadurch nur entstellt und verdorben. In ihrer ursprünglichen Einfachheit lautet sie etwa folgendermaßen:

Zu den Zeiten der Riesen, von denen manche meinen, daß sie schon beim Leben Noahs im Lande Tirols gesessen, lebte hoch auf dem Gebirge, darunter später sich die Landeshauptstadt Innsbruck anbaute, eine Riesenkönigin, die hieß Frau Hütt. Ihr Reich, das sie beherrschte, war voll herrlicher Wälder und Alpentriften, so schön und schöner noch, wie alle herrlichen Rosengärten. Ihr Felsenschloß glänzte wie Krystall [Kristall] in die Thäler nieder. Frau Hütt hatte ein Söhnlein, welches sie sehr, ja über alle Maßen liebte.

Da geschah es einstmals, daß das Riesenknäblein sich eine junge Tanne abbrach zu einem Stecken oder Steckenpferde; aber zufällig stand die Tanne am Rande eines moosigen Sumpfes, das Erdreich gab nach, und das Reisenkind fiel sammt seiner Tanne in den Schlamm. Seine angeborenen Kraft half ihm nun zwar bald aus dem unfreiwilligen Moorbad; allein es kam d och als Mohr aus dem Moor nach Hause, und seine Kleidung hinterließ keine schöne Spur im Schlosse der Frau Hütt. Diese tröstete den lieben Knaben, ließ ihn durch die Diener entkleiden und befahl, ihn recht sauber zu machen, und seinen schmutzigen Lieb mit Brosamen und Semmelkrumen zu reinigen. Aber kaum begannen die Diener diesen sündlichen Befehl zu vollziehen, so stieg ein schweres Wetter rasch herauf, hüllte alles in entsetzliche Finsterniß, heftige Erdstöße erschütterten das ganze Gebirge, der Palast der Frau Hütt brach in eine ungeheure Trümmermasse zusammen, und da kamen, wie vom Himmel herabstürzend, grausame Muren und schauderhafte Runsen und donnernde Lawinen, und nur wenige Stunden, so war alles das paradiesische Alpenland, das das Reich der Frau Hütt bildete, zerstört, die Wälder hinweggefegt, die Aecker und Triften mit Steinhagel häuserhoch überschüttet, und rings nichts als eine große Wüste und unfruchtbare Felsenschrofen, wo kein Grashalm mehr aufsprossen konnte. Frau Hütt aber war zur Felsgestalt versteinert, wie sie ihren auch versteinerten Sohn in ihren Armen hält, und so wird sie bis zum jüngsten Tag stehen.

Quelle: Mythen und Sagen Tirols, gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Zürich 1857, S. 239f, Nr. 1