Die Entstehung des Walchsees

Die Gegend, wo jetzt der Walchsee im Bezirk Kufstein den Boden bedeckt, war einst ein wunderschöner Wald. Weil aber der Wald nicht abgegrenzt war und viel eintrug, bildete er den Zankapfel zwischen den Nachbarn. Der Hader zog sich ins Unendliche und artete in grenzenlose Feindschaft aus. Statt die Stämme gemeinschaftlich und brüderlich zu schlagen, geriethen [gerieten] die Anwohner hart aneinander und schlugen sich die Schädel ein. Da machte ein Höherer den Frieden unter ihnen, denn eines schönen Tages sah man da an Stelle des streitigen Waldes alles mit Wasser bedeckt. Eine Sennerin, welche vorher durch den Wald gieng, um am jenseitigen Berge die Kühe zu melken, sah auf dem Wege dahin bloß ein Grüblein, mit Wasser gefüllt. Auf dem Rückwege konnte sie schon nimmer durch, da war schon der ganze See vor ihr ausgebreitet. In früheren Zeiten gieng da oft zur Nachtszeit die unheimliche Seefackel um. Manchem Wanderer hat sie unliebsam auf den Weg den See vorbei geleuchtet, und die Leute fürchteten sich. Man sagt, es wäre die Seele einer Dirne gewesen, die ihr in unerlaubter Weise erbrachtes Kind in die Fluten des Sees versenkt habe. Der See gehört dem Fischerwirt, aber die Nachbarn, zwischen denen einst der Wald streitig gewesen, genießen daran ein Rechtsalterthum [Rechtsaltertum]. Sie dürfen nämlich mit der Angel an einer siebenhaarigen Schnur darin fischen und Stre, mähen, soweit sie hineinwaten können.

Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 55, S. 92f