Der geisternde Senner

Auf dem Schönanger, einer großen und herrlichen Alpe in der Hinteren Wildschönau, war ein Senner, der mit der Gottesgabe lüderlich [liederlich] umgieng [umging]. Die Almbutter gebrauchte er statt des Mörtels und verstrich damit die Lucken und Ritzen der Almhütte, durch welche der Wind strich. Auch sonst trieb er mit dem Essen allerlei Unfug. Dabei war er überaus hartherzig gegen den Nächsten, und wenn ein armer und müder Wandersmann in der Hütte um etwas vorsprach, hetzte er den Hund auf ihn, der ihm zu den alten Fetzen noch ein paar neue aus den Hosen biss.

Allein der große Brotvater im Himmel ertrug diesen Frevel nicht länger, und eines Morgens fand der Hütbub den Senner todt [tot] im Bette. Von dieser Zeit an spukte es auf der Alm. In der Nacht kam gewöhnlich ein winziges Männlein in die Hütte, kugelte laut jammernd auf dem Boden umher und that, als suchte es etwas, das es doch niemals fand, und verließ nach einer Weile ächzend die Hütte wieder.

Da war einmal ein sehr beherzter Senner auf der Alm, der sich vor nichts fürchtete. Und weil ihm das Männlein den Schlaf raubte, stand er einmal, als der Kleine wieder in der Hütte geisterte, vom Bette auf, nahm die Viehgeißel und maß dem Störefried ein paar gesalzene herab. Darauf warf er ihn zur Thür [Tür] hinaus. Seitdem ließ sich der Geist nimmer blicken.

Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 20, S. 62