Das Neustifter Mütterchen

Als noch alle Bewohner des Thales Stubai nach Telfes Kirchen gehen mussten, lebte zu Neustift hinten ein überaus frommes Weiblein. Es war schon meeralt, hatte auch schon lange keinen gesunden Tag mehr; dennoch wollte sie in der Christnacht den Gottesdienst nicht auslassen. Sie gieng [sic] wohl zeitig genug daheim fort, aber, o mei! mit dem Fußwerk war's völlig nichts mehr; als das Weibele nach Telfes kam, war es schon eine halbe Stunde über zwölf. Wie war sie aber erstaunt! Bei ihrem Eintritt in die Kirche fieng [sic] der Geistliche erst an, das Staffelgebet zu beten. Gott hatte es so gefügt, dass er nicht früher mit der heiligen Handlung, beginnen konnte, als bis das Weibele gekommen war.

Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 5, S. 46f