Zehn Jahre als Esel

Ein junger Knecht aus der Ellmauer Gegend wurde von einem Weiblein, das eine Hexe war, angebettelt, gab ihr aber das Verlangte nicht. Voll Zorn sprach dasselbe:

"Du sollst ein Esel sein!"

Und auf einmal ward er in einen Esel verwandelt. Traurig marschierte er nun seinem Dienstorte zu, in der Hoffnung, dort erkannt zu werden.

"Wem gehört denn der Esel?" rief man.
"Treiben wir ihn aus!"

Doch der Esel kam immer wieder und hörte alles, was man zu ihm sagte, konnte aber selbst nichts reden als i, a. [sic] Im Sommer gieng's [sic] wohl so; aber im Winter erfror er fast. Zehn Jahre vergiengen [vergingen]. Da begegnete eines Tages ein altes Männlein dem Esel. Es hatte einen Sack auf dem Rücken und schien gar schwer daran zu tragen. Der Esel dachte sich: Ach, wenn er nur mir den Sack auflegte, ich würde ihn gerne tragen. Und wirklich, bald lud das Männlein seine Last auf des Grauen Rücken. Es gieng voran, der Esel ihm bedächtig nach bis zu des Männleins Heim. Zum Abschiede sagte nun das Männlein zum Esel:

"Du solltest am Antlasstage den Kranz von einer ganz reinen Jungfrau fressen."

Der Esel gieng, im Herzen dem Männlein aufrichtig dankend, mit dem festen Vorsatze, das zu thun [sic]. Der Antlasstag war bald da. Unser Esel stellte sich nun hinter den Zaun, bei dem die Procession [Prozession] vorbeizog. Aber man jagte ihn fort. Doch der Esel kommt immer wieder, und endlich gelingt es ihm, den "Gwödlkranz" vom Kopf eines dreijährigen Mägdleins, das auf dem Arme seiner Mutter sitzt, zu fressen. Er bekommt wohl etliche Schläge, doch sein Bemühen ist nun hinreichend belohnt, denn auf einmal ist er wieder Mensch.

Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 79, S. 111f