Die "Grassegger Labbin"

Im Zillergrund liegt unterhalb der schroffen Felspyramide der Ahornspitze die Alpe Grassegg. Au f der Schwelle der Hüttenthüre hockte immer eine alte "Labbin". Sie hatte einen unverhältnismäßig kleinen Kopf und den breitkrempigen Filzhut stets tief ins Gesicht gedrückt. Nachts schlief sie in einem Winkel der Hütte und störte überhaupt die Insassen derselben in keiner Weise.

Einmal aber hörten die Senner mitten in der Nacht schreien: "Nar ofohr'n, Schoffar, nar hüsig ofohr'n!" Da ihre Warnung aber nicht beachtet wurde, rief sie dieselben Worte in der folgenden Nacht wieder und endlich in der dritten so laut, daß es durch die ganze Hütte gellte. Der Schaffer sucht ihr nun klarzulegen, daß er doch nicht in der finstern Nacht abfahren könne und was die Bauern dazu sagen würden, wenn er die kaum bezogene Alm schon wieder verließe. Das Weiblein aber versicherte ihn mit einer Hast, die ihn ängstigte, es geschehe dem Vieh sicher nichts und auf ihn sei gewiß niemand böse. Da entschloß sich der Schaffer doch, von einer dunkeln Ahnung getrieben, schnell die Anstalten zur Abfahrt zu treffen. Beim Abtrieb hielt die "Labbin" die ganze Heerde in der schönsten Ordnung; bald war sie vor, bald hinter dem Zuge, ja manchmal sogar an beiden Enden zugleich, so daß nicht ein einziges Stück erfiel. Kaum waren aber Menschen und Vieh in Sicherheit, als man vom Joch herunter ein dumpfes Donnern vernahm, und eine verheerende Lawine einen großen Theil der Weide überschüttete und die Hütte sammt dem Stalle in den Abgrund riß.

Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 110.