Die Venedigermännlein

Tirols reicher Bergbau in den vergangenen Jahrhunderten, der dem Lande großen Reichtum und Wohlstand brachte, hat auch in der Sage ein Denkmal im Volke hinterlassen. Das Entstehen der Bergwerke ist mit besonderer Aufmerksamkeit überliefert, und auch das Ende des Bergbaues.

Nachstehende Zeilen werden sich mit den Entstehungssagen etwas befassen. In ihnen tritt eine Gestalt auf, die nicht nur das Entstehen der Bergwerke bewirkt hat, sondern sich auch anderweitig uneigennützig in den Dienst der Menschen stellte: Es ist das Venedigermandl.

Alle Sagen über die Entstehung von Bergwerken erwähnen das Venedigermandl. Im Traume, durch eine Begegnung oder aus Dankbarkeit führten die Venedigermännlein die Bewohner des Alpenlandes zu den im Innern der Erde ruhenden Schätzen und Erzen.

Das Bergwerk am Röhrerbichl wurde drei Handwerksburschen, die auf der Lehrlingswanderung waren, durch eine Eingabe im Traum offenbar.

Das berühmte Bergwerk in Schwaz verdankt seiner Entstehung einer Begegnung zwischen einem Venediger und einem Bauern: Der Bauer traf im Walde einen Venediger und da er wußte, daß diese Männlein viele Schätze besitzen, sagte er zu ihm, er solle ihm einen Hut voll Edelsteine bringen. Ohne Mühe gebe es keinen Schatz, erwiderte ihm der Venediger; dabei verriet er ihm, wenn er nachgrabe, werde ein Strom vom Reichtum aus dem Berge fließen.

Der Eisenbergbau am Pillersee wurde dadurch entdeckt, weil die Leute stets Venedigermandln dort sahen, und dies schien ihnen nicht ohne Bedeutung. Man grub nach und fand Eisenerze.

Ein Venediger brachte einmal einen Villanderer Bauern einen Hut voll Silber für eine erwiesene Liebestat. Der Bauer fragte, von wo er dieses Silber habe? Das Venedigermandl sagte kurz: "Aus dem Berg." Erst nach etlichen Jahren ließ der Bauer nachgraben, und da entstand das Silbergwerk von Villanders.

Auch die Bergwerke von Klausen, Gossensaß und Terlan wurde von den Venedigern den Bewohnern zugeführt.

Einmal tat sich ein Venediger im Walde weh - er rutschte aus und stürzte einen Steilhang hinunter - und konnte nicht mehr weiter. Eine alte Frau mit ihrer Tochter trafen das Männlein, als sie das Holz sammelten. Beide mühten sich nun mit ihm ab. Sie nahmen den Venediger in ihre Hütte, verbanden und pflegten ihn. Als er geheilt war, verschwand er spurlos. Nach einigen Tagen kam er mit einem Sack, der gefüllt war mit Erzen, und übergab ihn als Dank für die Mühe, die man um ihn machte. Er wies auch den Weg zu den Erzen. So entstand das Bergwerk von Klausen.

Das Bergwerk von Rabenstein im Sarntal ist durch ein Venedigermännchen, das einem Holzknecht begegnete, entdeckt worden. Der Holzknecht hielt den Zwerg auf und verlangte von ihm einen kleinen Schatz. Der Venediger sagte, daß er keinen Schatz habe, wenn er aber durchaus einen haben wolle, so möge er im Walde nachgraben. Der Holzknecht glaubte dem Venediger, grub nach und fand Silber und Blei.

Die Venediger haben auch eine andere Art von Schätzen. Als Schatzhüter wurden sie oft angestellt, und sie mißbrauchten ihr Amt nie. Auch wußten sie, wo Schätze von Rittern, reichen Bauern und Bürgern vergraben wurden. Sie hüteten alle Schätze der Erde mit größter Sorgfalt. Waren sie einem Menschen gut gesinnt, und hegten sie zu ihm Vertrauen, so verrieten sie einen solchen Schatz. Schweigen ist Gold. Dieses Sprichwort galt auch bei den Venedigern. Jedem, dem sie eine Erzader oder einen anderen Schatz verrieten, legten sie Schweigepflicht auf. Viele konnten nicht schweigen, und die Folge war, daß der Schatz oder die Erzader dem Nachkommen des Betreffenden fast aus den Händen rann.

So lebt die Sage von den Venedigern im Tiroler Volke. Der Bergbau ist heute kein bedeutender Wirtschaftszweig mehr; die Sage jedoch erinnert uns noch an den blühenden Bergbau, an die Zeit, wo in Schwaz 30.000 Bergknappen Arbeit und Brot fanden.

Quelle: Anton Schipflinger in: Kitzbühler Nachrichten, 1939, Nr. 21, S. 6.
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler, Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).