Der Tagweid-Stier

Auf der Tagweidalm in der Windau war vor langer Zeit ein Melker, welcher einen großen Teil der Milch, die er molk, in den "Schoakoast" 1 goß. Während des Sommers ahnte niemand von diesem Tun des Melkers etwas. Als es von der Heimfahrt zur Milchrechnung kam, war es dem Bauer zuwenig Milch. Der Bauer stellte den Melker zur Rede. Dieser erwiderte: "Wenn ich einen Tropfen Milch vergossen habe, so soll ich, wenn ich gestorben bin, ein Stier werden."

Bald darauf starb der Melker. Im Längs, als man mit dem Vieh auf die Alm fuhr, war auf der Tagweidalm ein Stier. Und dazu ein ganz eigenartiger - er riß immer los, weidete allein und hatte ein auffallendes Gebrüll. Die Älpler beschlossen, ihn in den Steinkarsee zu senken. Man führte den Stier zum Steinkarsee. Kaum waren sie dort angekommen, als der Stier zu sprechen begann. Er sagte: "Wenn's ös mi in See senkt, aft laß' i 'n aus, daß 's Wassa beim Huzn 2 beim Kuchlfensta einchi rinnt." Von dieser Art, den Stier los zu werden, ließen die Älpler nun ab. Was tun? Man frug weit und breit nach einem guten Mittel. Gar viele Ratschläge erhielten die Älpler. Aber der eine war nicht gut genug und den anderen getrauten sie nicht auszuführen. Schließlich kam man auf den Gedanken, den Stier auf den Kaiser zu bannen.

Man ließ einen Pater kommen. Dieser mußte den Stall aussegnen und dann den Stier auf den wilden Kaiser bannen. Ein Mann mußte vorausgehen, ohne zurückzuschauen, und immer im Schutt- oder Wagenloast 3 gehen. Der Pater folgte betend dem Stier.

Der Stier muß solange im Kaiser draußen bleiben, bis der Schreibname "Sturm" ausgestorben ist.

Zu Kummern - zu diesem Bauernhöfe gehörte damals die Tagweidalm - mußten sie jährlich etliche Messen stiften. Dies mußten sie tun, damit der Stier nicht mehr auf die Alm komme.

1 "Schoakoast" - Öffnung, wo man den Mist aus dem Haag (Almstall) scharrt. -
2 Huzn ist ein Bauernhof auf der anderen Talseite. Der Hof liegt in ziemlicher Höhe. Das ganze Windautal wäre dann ein See gewesen. -
3 Spur, wo man mit einem Wagen oder Schlitten gefahren ist. (Anton Schipflinger)

Quelle: Anton Schipflinger in: Tiroler Heimatblätter, 1939 Nr. 4, S. 114-116.
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler, Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).