Der Kirchanger Rabe
In der Nähe des Kirchanger-Kirchleins hauste früher ein Rabe;
obwohl im Brixental Raben keine Seltenheit waren, so schenkte man diesem
Raben ein besonderes Augenmerk. Seine Füße bluteten jeden Tag,
den Kopf ließ er hängen, die Schwanzfedern waren weiß.
Am Freitag flog er in das Kirchlein und küßte mit dem Schnabel
das Marienbild. Die Leute stritten sich um den Raben sehr viel, denn die
einen sagten, er sei ein Untersberger Rabe, andere behaupteten, er sei
ein verzauberter Mensch. Man wollte ihn fangen, doch erwischte man ihn
nicht. Eines Tages verschwand der Rabe; man hörte und sah nichts
mehr davon. Vielleicht hatten die Ersteren Recht, die sagten, daß
er ein Untersberger Rabe war.
Quelle: Anton Schipflinger in: Sonntagsblatt Unterland
1937, Nr. 21, S. 5
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner
näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger
Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler,
Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).