Die verstoßene Bäuerin

Es war in alter Zeit, da lebte am Ufer des Inns bei Wörgl eine junge, rüstige Frau. Niemand wußte, woher sie war. Sie war menschenscheu, und tagelang trat sie nicht aus der Hütte.

Am hl. Abend, als die Frau gerade Späne klob, fuhr die wilde Innschiffahrt vorbei. Die Haustüre war nicht versperrt, und so kamen zwei wilde Innschiffer zu ihr in die Küche. Das Weib erschrak und wollte mit dem Messer auf die beiden losgehen. Da packte sie einer beim Genick, der andere entwand ihr das Messer. Man zerrte die Frau aus dem Hause, und sie mußte mit der wilden Innschiffahrt gehen.

Jahre verstrichen. Niemand hörte etwas von der Frau. Das Häuschen verlotterte und mußte verfallen. Die Leute munkelten allerhand; manche wußten mit Bestimmtheit zu sagen, daß sie der Teufel geholt habe.

An einem hohen Feiertag - es soll Fronleichnam gewesen sein - pochte bei Schloß Werburg ein altes Weiblein an. Man öffnete ihr das Tor, gab ihr zu essen und stellte sie als "Goaßdirn" an.

Den übrigen Dienstleuten fiel es auf, daß sie an den Sonntagen und Feiertagen im Ziegenstall ein sonderbares Gemurmel hörten. Lange zögerte man, bis sich ein Knappe entschloß, einmal nachzuschauen was die "Goaßdirn" macht. Der Knappe schaute bei der Türritze hinein und fuhr entsetzt zurück. Er lief in die Küche hinauf und sagte nur die Worte: "Teufel ... Seelen ..." Dann brach er tot zusammen.

Der Besitzer des Schlosses ließ nun einen Priester kommen und den Stall aussegnen. Doch am nächsten Tag war das Gemurmel noch lauter.

Die Dirn auszujagen wagte man nicht. Der Schloßherr sandte zu einem bayrischen Einsiedler einen Boten. Der Einsiedler gab dem Boten zwölferlei Krauter mit. Alle diese Krauter mußten in den Strohsack der Dirn gelegt werden. Wie der Einsiedler sagte, tat man.

Der nächste Sonntag war der dritte Sonntag im Monat Juli. Gespannt auf die Geschehnisse, die nun kommen werden, bleib der Schloßherr auch daheim. Auf einmal begann im Stall drunten ein Geschrei. Der Teufel und die Dirn stritten.

Nach einiger Zeit verließ die Dirn den Stall, eilte in die Küche und fiel vor ihrem Brotgeber in die Knie. Der Ritter fragte sie, was sie wolle. Jetzt begann sie zu beichten. Sie erzählte, daß sie einmal eine Bäuerin war, aber nicht sparen konnte, und dann völlig verarmt ist. Von dem Erlös, den ihr Ehemann hinterlassen hatte, baute sie ein kleines Häuschen am Inn. Von den Erlebnissen mit der wilden Innschiffahrt schwieg sie. "Und jetzt bin ich verstoßen", setzte sie die Beichte fort. "Ich muß elend umkommen. Nur die armen Seelen können mich retten!"

Nach einer kurzen Pause, die sie mit Weinen ausfüllte, verließ sie das Schloß. Nie mehr hörte man etwas von ihr.

Quelle: Anton Schipflinger in: Tiroler Grenzbote 1937, Nr. 43, Die Heimat-Glocke (Beilage zum Tiroler Grenzboten und zum Tiroler Volksblatt, Blatt 7, S. 6.
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler, Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).