Der untreue Hirte

Von einem untreuen Hirten geht, wie nicht selten auf manchen ändern Almen, auch im Paznauntal die Sage, wie seine Leitkuh sich immer sehr weit verlief und ihm manche Plage machte, dadurch, daß er sie lange suchen mußte. Dann schlug er unbarmherzig auf das arme Tier los, und endlich legte er lange Baumrinden nebeneinander über einen tiefen Tobel, und wie die Kuh an jene Stelle kam, meinte sie, es führe eine Brücke über den Abgrund hinüber, wie es solcher viele gibt im Gebirge für Menschen und Vieh. Die Kuh betrat die schwache Rindenbrücke und stürzte in den Tobel hinunter, wo sie sich zu Tode fiel, sehr zum Schaden und zum Unglück des armen Bäuerleins, dem sie gehörte.

Einige Jahre darauf starb der Hirte, ohne daß kund ward, was er getan, aber seine Strafe war schon verhängt. Vom Tage seines Todes an mußte er als Geist wandern und tagtäglich eine Kuh aus jenem Tobel zur Höhe tragen, die jedesmal wie der Fels dem Sisyphus auf der Höhe ihm wieder entglitt. Einst besprach ein Hirte den Geist, in der Hoffnung, ihn zu erlösen, allein derselbe wimmerte, er könne nicht so leicht erlöst werden. "Fünfzig Gulden war die Kuh wert", seufzte der Geist, "und jedes Jahr schreiben mir die Engel einen einzigen Groschen Münze ab von meiner Sündenschuld - nun rechnet selbst, wie viele hundert Jahre ich büßen muß."


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 201.