Die verkrötete Kindsmörderin

Ein wohlhabender Bauernsohn aus dem Unterinntale verließ sein Mädchen, welches die Folgen unerlaubten Umgangs fühlte. Die Verlassene entzog sich den Augen ihrer Bekannten, ermordete das Kind, dessen sie genesen war, und kam wieder zum Vorschein, ohne daß jemand ihr Verbrechen ahnte. Jahre vergingen, und nach Schicksalen mannigfacher Art kam der Spruch zur Geltung: "Alte Liebe rostet nicht." Denn der wohlhabende Bauernsohn, dessen Eltern mittlerweile gestorben waren, heiratete das nämliche Mädchen, das er so sehr gekränkt hatte und welches seither mit den Qualen eines folternden Gewissens umhergezogen war.

Zwei Jahre lebten beide fleißig schaffend auf Hof und Feld. Daß die Frau so still und düster in sich gekehrt war, hielt der Bauer für Gewohnheit. Als aber ihre Ehe mit einem lieblichen, gesunden Knaben gesegnet wurde und die Mutter, sooft sie das Knäblein ans Herz legte, bitterlich weinte, konnte er sich das nicht erklären, es tat ihm weh. Ja, es tat ihm so weh, daß er mit guten und mit harten Worten nach der Ursache forschte. Die arme Frau bekannte mit Beben und Tränen in den Augen, wie sie vor Jahren Kindsmörderin geworden und wie dieses Knäblein dem Gemordeten auf ein Haar ähnlich sehe und daß sie fast verzweifeln müsse, weil sie vergeblich einen Beichtvater um Absolution angesprochen habe, indem solche Verbrechen nur der Bischof zu lösen die Macht habe. Zum Bischof zu reisen, der weit entfernt wohnte, hatte sie nicht Gelegenheit und getraute sich auch nicht vor seinen Augen zu erscheinen, deshalb wurden Beichte und Buße verschoben. Als ihr Mann dieses Bekenntnis hörte, erbleichte er und war wie vom Donner gerührt; war ja das gemordete Kind sein Kind und er die Ursache, daß seine Frau Kindsmörderin geworden. "Ach Gott", rief er, die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend, "wir müssen den Himmel versöhnen, da es soweit gekommen ist, und sollte auch unser Leben und Gut daran!" - Im Gebirge am Vorsprunge des linken Talzuges, der vom Zillertale ins Unterinntal vorsteigt, lebte ein Klausner nicht weit von einem Bergkirchlein, die Brettfall genannt. Der Klausner lebte im Ruf der Heiligkeit, und das mit Recht, denn er war eifrig bei Tage und bei Nacht im Fasten und Beten für die verirrten Menschen, die nicht zu ihm kamen, und denen, welche ihn besuchten, war er ein weiser Ratgeber in den Bedrängnissen der Seele und ein getreuer Helfer. Also geschah es, daß die beiden Eheleute zu ihm gingen und ihm ihren Kummer anvertrauten. Der Klausner, ein echter Nachfolger Christi, hörte sie liebevoll an, blickte zum Himmel auf und sprach: "Dem Sünder, welcher wahre Reue fühlt, ist der heilige Gnadenborn niemals verschlossen." Die zwei Eheleute übergaben bald darauf auf den Rat des frommen Mannes ihr großes Anwesen vertrauten Leuten und pilgerten in Büßerkleidung gen Rom zum Heiligen Vater. Dort beichteten sie ihre Schuld, worauf der Mann, nachdem ihm eine Buße auferlegt wurde, den Auftrag erhielt, nach seinem Heim zu ziehen, und zwar allein, denn seine Frau dürfe erst nach sieben Jahren ihrer schweren Bußezeit folgen; mehr erfuhr er nicht und hörte und sah auch nichts mehr von seiner Frau. Diese ward vom Papst verurteilt, so schwer wie ihre Sünde. In eine Schildkröte verwandelt, mußte sie sieben Jahre, nicht selten in Todesgefahren schwebend, auf der Erde rastlos herumwandeln und die steilsten, auf glatten Felsenspitzen erbauten Wallfahrtskirchen erklimmen und beten. Mit christlicher Geduld und Demut ertrug sie alles; denn nicht nur, daß sie beim Hinanklettern über die steilen Felsen wegen der unbeholfenen Bauart ihres plumpen Körpers hundertmal abglitt und von den Felsen in die Abgründe stürzte und sich schmerzlich verwundete; sondern man warf sie auch gewöhnlich aus jedem Kirchlein hinaus und hinab über die rauhen Felsenwände, wenn man sie gewahrte.

Da sie im letzten Jahre der Buße nach Tirol die Bozener Straße entlang über den Brenner kroch, erblickte sie ein "schwerer Fuhrmann", das will sagen, ein Fuhrmann, der mit einem schwerbeladenen Weinwagen dahin fuhr. Dem Fuhrmann gefiel die langsam krabbelnde Schildkröte, und er trieb seine Kurzweil mit ihr. Endlich kam ihm der Gedanke, zu versuchen, ob über dieselbe ein schwerbeladener Frachtwagen fahren könne, ohne ihr zu schaden, weil er davon einmal erzählen hörte. Er schob die Kröte unter eines der vorderen Räder und fuhr über sie hin, daß ihr fast der Schild zersprang, doch kam sie noch lebend davon, und der grausame Fuhrmann schnellte sie dann mit seinem umgekehrten Peitschenstiele so gewaltig aus dem Wege, daß die verkrötete Bäuerin in eine Dornhecke flog und drinnen niederfiel, aus welcher sie einige Tage nicht herauskommen konnte und sich fast verblutete. Nachdem sie endlich herausgekommen war, kroch sie nach ihrer Heimat, mußte aber, weil das siebente Jahr noch nicht völlig um war, nach der Weisung zu Rom in ein wildes Seitental und dort in eine uralte kleine Totenkapelle wandern, um darin zu beten, allwo sie dann ihr ferneres Schicksal erfahren sollte. Sie mußte auf dieser Wanderung neue Todesgefahren überwältigen, denn sie wurde von abrollenden Steinmuren überschüttet, und als sie sich durch einige Wochen angestrengter Arbeit herausgegraben hatte, fiel sie in den angeschwollenen Wildbach, der dicht unter ihrer Grube vorbeibrauste. Der Wildbach riß sie mit sich, schnellte sie an die großen Steine des Rinnsales, und nach tausendfachen Schlägen, und fast zerschmettert, wurde sie mehrere Stunden weit hinausgetragen, ganz entfernt vom nahen Ziele. Doch geduldig kroch sie wieder einwärts zu dem ihr vorgezeichneten Friedhofkirchlein und kam endlich glücklich dort an. Aber am Kirchenpförtchen standen zwei Wächter, welche die Kröte nicht eintreten ließen, sondern sie jedesmal, wenn sie fast zum Ziele gelangt war, zurückwarfen; ja die zwei Wächter gebärdeten sich als die feindlichsten Widersacher. Endlich hatte sie nach langen und vielen Mühen das Glück, in das Kirchlein zu schlüpfen und ihr Gebet verrichten zu können. Aber das Kirchlein war übervoll von unbekannten geisterhaften Gestalten, welche alle auf die Eingedrungene losstürzten und ein schauriges Rachegeschrei erhoben; zugleich wurde ihr geoffenbart, daß sie mit dem Leben ihres Kindleins, welches sie getötet, das Leben aller dieser Wesen verhindert, eigentlich ausgelöscht habe; denn die Gestalten, welche sie sah, waren die Bilder der Nachkommen, welche von Gott bestimmt gewesen, auf Erden zu wandlen, und von denen das gemordete Kind der Stammvater geworden wäre. Die Kröte hörte geduldig die wohlverdienten Vorwürfe an, betete andächtig, und - plötzlich verschwanden die Gestalten, und verwandelt stand die Schildkröte in Menschengestalt vor dem Kirchlein; es war die Bäuerin, nun gesühnt und erlöst, und sie zog heim zu ihrem Mann und lebte nun glücklich bis an ihr Ende.

Diese sehr eigentümliche und zugleich sehr weit ausgesponnene Sage, welche der Angabe einer Örtlichkeit entbehrt, hat einen wunderbaren Zug - Geister, welche hätten körperlich entstehen können (demnach vorgeschaffen), wäre nicht der Kindesmord erfolgt, erscheinen zu lassen, fast wie in Shakespeares Macbeth; sowie auch jene Selbstmördergeister, welche die durch eigene Hand gegen Gottes Willen gekürzten Lebensjahre noch in Pein und Buße verbringen müssen.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 91