DER VERSUNKENE WALD
An mehreren Orten Tirols begegnet man der Sage von versunkenen Wäldern, so bei Kitzbühel am Schwarzensee, am Laufersee und unter andern auch bei Reit und Bschütt am Jochberge. Dieses Reit ist ein Weiler von sechs Höfen und liegt über dem Weiler Bschütt, eine Viertelstunde von der Pfarrgemeinde Jochberg, am rechten Ufer der Jochberger Ache. In der Nähe befindet sich ein kleiner See, und so weit sich dieser erstreckt, so weit stand einst dort ein Wald. Zu dessen Eigentümer kam ein Mann, der sagte, der Wald sei sein, er habe alte Dokumente aufgefunden, welche das bewiesen. Da jener seinen Besitz behauptete, so kam es zu einer Klage vor Gericht, und der Streit zog sich in die längste Länge, denn die Advokaten denken und sagen: "Wozu Eile in Rechtssachen? Wenn der Prozeß vorbei ist, steht die Kuh trocken." Nun durfte der bisherige Eigentümer in seinem Besitztum keinen Ast mehr abschlagen, und die schönen Stämme alle wurden ihm zu Kreuzbalken, so daß er alle Freude an dem Wald verlor. Da begegneten einmal beide Gegner einander im Walde, und da sprach der Besitzer, indem er sein Haupt entblößte und die Hand gen Himmel hob: "Ich rufe Gott den Allmächtigen und Allwissenden zum Zeugen an. Gehört dieser Wald mein, so soll er in Jahresfrist zum See werden, gehört er aber dein, so soll er fortgrünen und dein bleiben!"
Sonnenuntergang in Kitzbühel
zentral der Schwarzsee
© Mag. Ingeborg Platzer
"Selbes ist mir schon recht! Werd' ihn wohl behalten, denk ich", antwortete höhnisch der Gegner. Aber ehe das Jahr verstrich, kam ein Orkan und ein Erdbeben und ein Wolkenbruch, der Wald brach und versank, und dunkle Wellen bedeckten ihn, aus dein Walde ward ein stiller, schauriger Weiher, auf dessen Boden man noch bisweilen die übereinandergestürzten Stämme liegen sieht.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben
von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 20