Die Armeseelenmügelen

In Tirol ist es Landesbrauch, am Allerseelentag den scharenweise herumziehenden Bettlern kleine Brötchen aus den Fenstern zu reichen, die man Armeseelenmügelen nennt, auf daß sie für die armen Seelen beten sollen. Da ist es einmal in mehreren Bauernhöfen halb am Berg droben über Wattens am Vögelsberg geschehen, daß man dort, weil Bauern und Bäuerinnen geizig waren, nur ganz kleine Brötchen buk und auch diese so spärlich austeilte, daß nicht einmal auf jeden Mund ein ganzes kam. Darüber haben viele Bettler gottjämmerlich gerehrt (geweint), und als die Nacht einbrach, kam noch ein ganz zerlumptes Weibl mit zwei halbnackten Fratzen barfuß beim Halbeismarterl vorbei nach Wattens gelaufen und schrie mit heiserer Stimme, daß sich hätten die Stein erbarmen mögen:

Beim Bipfl, beim Buggl, beim Halbeis, beim Stoan
Machen s' die Seelenmügelen alle zu kloan.

Vögelsberg © Berit Mrugalska
Vögelsberg, Wattens (Tirol)
© Berit Mrugalska, 4. Februar 2005

Und die Kinder schrien es ihr nach. Und die Namen, die das Weibl rief, waren lauter Hofbauern. Alle Leute fuhren an die Fenster und gruselten sich vor dem Zetergeschrei und nahmen sich's zur Warnung und buken und gaben künftig lauter große Armeseelenmügelen; aber zweien, die nicht der Warnungsstimme folgten, kam 's Unglück über Hof und Feld. Das Bettelweibel mit seinen zwei halbnackten Fratzen ist seitdem nicht mehr gesehen worden. Der Glaube von den armen Seelen ist etwas ganz Besonderes. Es ist meist eine nicht schwere Sünde, die zum Herumwandeln nach dem Tode als "arme Seele", welche vom Gebet der Lebenden ihre Erlösung hofft, verurteilt. Der Spielmann Seppl in Wattens warf oft Brotbröcklein auf den Boden. Man sagte ihm warnend, der Teufel klaube jedes vernachlässigte Brosamlein auf, knete sie zusammen und backe in der Hölle Zelten daraus, und dann müßten die Versündiger an der lieben Gottesgabe drunten in der Hölle das glühende Laibl anbeißen - aber der Seppl hat nicht geglaubt; endlich fand man ihn eines Morgens tot im Bette, und er hatte ein glühheißes Höllenzeltl im Maule, und es war ringsum alles schwarz gebrannt.

Nur am Allerseelentage dürfen die armen Seelen auf die Oberwelt und ihre Erlöser suchen, die für sie beten oder sie besprechen oder ihnen tröstliche Worte sagen. Finden sie niemand, der das tut, so müssen sie gleich beim Abendgebetläuten wieder in die schaurige Nacht ihres Zwischenreiches hinab, darum Schmuck und Opferlichter auf den Gräbern, darum Tränen, Gebet und Fürbitten, darum Seelenmessen, und darum auch Austeilung milder Gaben und Armeseelenmügelen, sogar zum Teil schon am Vorabende an arme Leute, damit sie an deren Festtage viele Vaterunser, "Bitt für sie!" sprechen.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 97