Die streitbaren Brüder


Zu einer Zeit, als noch viele Heiden das Tal bewohnten, stand auf dem Vorsprung des Thierberges eine stattliche Ritterburg. Die Besitzer betrieben einen ergiebigen Bergbau, nebenbei aber frönten sie dem Räuberunwesen. So wurden sie allmählich reich und begütert, in den unterirdischen Gewölben häuften sich zahllose Schätze.

Zuletzt bewohnten zwei Brüder diese Burg. Sie lebten jedoch in Zwietracht miteinander, deshalb wollten sie sich trennen. Einer sollte den Besitz übernehmen, der andere mit Geld und anderen Werten abgefertigt werden.

Aber auch hier gerieten sie in Streit. Der scheidende Bruder sah sich übervorteilt, er bildete es sich zumindest ein; immerhin war sein Erbe ganz beträchtlich. Diesen Schatz vergrub er auf dem "Hösl", einem bekannten Übergang zwischen Alpbach und Wildschönau.

Panorama Alpbach im Alpbachtal, Gratlspitz und Hösljoch
Panorama Alpbach im Alpbachtal
a) Gratlspitz 1898 m
b) Hösljoch 1485 m

© Berit Mrugalska, 26. Juli 2004

Ja, da hatte er das Seine wohl in Sicherheit gebracht, die Zweifel aber ließen ihn nicht los. Hatte sein Bruder ihn betrogen?

Düstere Rachegedanken umschwelten ihn. Und in einer Nacht, als alle schliefen, da setzte er die Burg in Brand.

Schnell griff das Feuer um sich. Nichts konnte gerettet werden. Alle Menschen in dem weitläufigen Gebäude kamen elend um.

Der Ritter aber, der das unselige Werk auf dem Gewissen hatte, hockte während der ganzen Zeit auf einem Felsvorsprung und sah unbarmherzig zu. Das Schreien der gequälten Menschen ging unter im Brechen der Balken, im Prasseln der blindwütigen Feuersbrunst.

Ein Funkenregen nach dem anderen ergoß sich in den nachtschwarzen Himmel, glühende Geschosse flogen ins Weite. Und eines davon traf den Übeltäter am Kopf. Dies war die Vergeltung. Besinnungslos stürzte der Ritter den Abhang hinunter. Auf einer ebenen Fläche blieb er liegen.


Er war tot. Tot wie sein Bruder und alle, die ahnungslos in der Burg geschlafen hatten. Jene verbrannt, zu unkenntlichen Resten verkohlt, dieser hier eine Beute hungriger Vögel. Der leblose Körper lockte die Aasgeier in Massen an, sie rissen ihre Schnäbel in den noch warmen Leichnam, und tagelang umkreisten sie das einsame Lager unter dem Thierberg.

Die Seele aber fand noch lange keine Ruhe. Als Geist war der Ritter aufs Hösl hinauf gebannt, dort mußte er seine vergrabenen Schätze hüten.


Er fand erst seinen Frieden, als man nach Jahren an dieser Stelle eine kleine Kapelle erbaute.

Wie aber kam es zur Heidenglocke?

Als das Schloß niederbrannte, da schmolzen auch die reichen Schätze in den Gewölben. Diese flössen den Felsen hinab und erstarrten drunten zu einer festen Rinde.

Man fand sie später auf und verwendete sie, um für die neuerbaute Kirche in Alpbach eine Glocke zu gießen. So entstand die Heidenglocke.


Seit Jahrhunderten, bis heute, ist sie allen wohlvertraut: als Wetter- und als Sterbeglocke.


Quelle: Die Heidin, Alpbacher Sagenbuch, Berta Margreiter, Innsbruck 1986, S. 16f.