272. Der Warnungsruf des Berggeistes.

Vor Zeiten pflegten sich die Eisenerzer Bergarbeiter des Morgens vor Beginn der Arbeit immer zu versammeln, um Gott zu bitten, daß er sie in der Grube beschützen und die Ihren nicht des Ernährers berauben möchte. Weil aber der Bergmannsdienst ein sehr gefährlicher ist und Jeder gewärtigen muß, das Licht der Sonne nicht wieder zu sehen, so wurde vor der Einfahrt in die Grube das Zügenglöcklein geläutet und dann ging es, das Grubenlicht in der Hand, hinab in die grausige Tiefe.

Da geschah es eines Tages, daß, als die Arbeit eben erst begonnen hatte, das „Schicht aus!“, der Ruf, welcher den Bergleuten das Ende ihres Tagewerkes bezeichnet, ertönte.

Wie durch einen Zauber gelähmt standen die fleißigen Bergleute, die mit ihren düster brennenden Grubenlampen rastlos hin und wieder gelaufen waren, um das Erzgestein mit Schlägel und Eisen wacker zu bearbeiten und in die Hunde zu verladen. Bei dem ersten Rufe hatten die vor Überraschung sprachlosen Knappen an eine Sinnestäuschung geglaubt; als sich aber das langgezogene „Schicht aus!“ in rascher Aufeinanderfolge ein zweites und drittes Mal an ihr Ohr drang, eilten sie angstbeflügelten Fußes ins Freie, denn nun wußten sie, was dieses vorzeitige „Schicht ans!“ zu bedeuten hatte. Das war die warnende Stimme des Berggeistes. Und in der Tat, kaum hatten sie den gefährlichen Raum hinter sich, als das Gewölbe unter Krachen zusammenbrach und auch die Knappen unter ihren Trümmern würde begraben haben, wenn sie nicht der warnende Ruf des ihnen wohlgesinnten Berggeistes auf die nahe Gefahr aufmerksam gemacht hätte.

Friedrich A. Kienast.

Quelle: Johann Krainz, Mythen und Sagen aus dem steirischen Hochlande, Bruck an der Mur 1880.
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