Der Hüter und der Geist
Vor langer, langer Zeit lebte auf der "Aualm" am Tennengebirge ein frommer Hüter. An seine Hütte war ein Geist gebannt, mit dem er aber im besten Einvernehmen lebte.
eines Tages sprach der Geist zu ihm: "Du kannst mich erlösen, wenn du genau tust was ich dir sage. Bete wie bisher, dann wird dir nachts einmal eine Schlange erscheinen, die einen goldenen Schlüssel zwischen ihren Giftzähnen trägt. Wenn du den Mut hast diesen Schlüssel aus ihren Zähnen herauszureißen, wird sich die Schlange in die schönste Jungfrau verwandeln. Nimm dann den Schlüssel und erklettere die Höhe des Berges. Kurz vor dem Gipfel wirst du ein großes eisernes Tor finden. Wenn du dieses mit dem goldenen Schlüssel aufsperrst, so werden dir hinter dem Tore auf dem Weg in das Innere des Berges Geister entgegentreten und dir Gold, edle Steine und Fürstenkronen anbieten. Du aber sprichst immer nur: "Ich will nichts als die Jungfrau."
Der Hüter merkte wohl, daß der Geist, der so zu ihm sprach, die verwandelte Jungfrau selbst war, die durch seine Tat erlöst werden sollte. Aber er ging, nach dem er der Schlange den Schlüssel entwunden, zu dem Bergesgipfel, und als er alle Schätze zurückgewiesen, die ihm die Berggeister dort angeboten, trat ihm plötzlich ein Knabe entgegen und spielte auf einer silbernen Zither so lieblich und verlockend, daß der Hüter alles um sich her vergaß und bei sich dachte, "diese Zither wäre mir mehr wert als die schönste Jungfrau", denn er liebte das Zitherspiel über alles.
Kaum aber hatte er sich dies gedacht, da erdröhnte der Berg und der erschreckte Hüter wurde durch einen Luftzug, der einem wildheulenden Sturm glich, bis zum Ausgang der Berghöhle herausgerissen.
Aus dem geschlossenen Berg aber tönte es unheilverkündend an sein Ohr:
"Du konntest erlösen mich, weh mir!
Du konntest beglückt sein, wehe dir!
Nun bin ich verloren, verloren bist du,
Und findest im Leben nie wieder Ruh!"
Seiner Stimme kaum mehr mächtig, eilte der Hüter, der durch seinen Unbedacht nun alles verloren hatte, zu seiner Almhütte zurück. Aber, oh weh! Auch diese war vom Erdboden verschwunden und so irrte er bis in die späte Nacht umher. Der Geist aber blieb verschwunden.
Quelle: Karl Adrian, Alte Sagen aus dem Salzburger
Land, Wien, Zell am See, St. Gallen, 1948, S. 35 - 36