Die Friedhofsfahrt
Die Burschen von Unternberg verabredeten einmal, in einer Sonnnwendnacht mit einem Karren in den Friedhof zu fahren, in dem es von Geistern spuke. Sie hatten in ihrer Wette versprochen, zur Geisterstunde, also zwischen 12 und 1 Uhr nachts, dreimal um Kirche und Friedhof zu fahren. Als diese Zeit anbrach, nahmen die Burschen den bereitgestellten Karren und begaben sich damit in den Friedhof. Einer von ihnen setzte sich mit einem Schlegel in der Hand in den Karren. Mit diesem wollte er den Geistern, die ihm zu nahe kämen, auf die Finger klopfen. Während die anderen Burschen vorne am Karren zogen, blieb einer zurück und schob von hinten an. So zogen sie unter lautem Gejohle im Friedhof über die Grabhügel hinweg und um die Kirche. Die durch den Lärm herbeigerufenen Geister, deren Zahl sich immer vergrößerte, rannten dem Karren nach. Der Bursche, welcher in dem Karren saß, suchte sie mit seinem Schlegel davon abzuhalten, was sie aber nicht hinderte, ihnen zu folgen. Als sie das drittemal um den Friedhof herumkamen, hämmerte es vom Kirchturme die erste Morgenstunde.
Als die Burschen dies hörten und sahen, daß ihre Wette verloren sei, sprangen sie schnell über die Friedhofsmauer. Der letzte, der hinten am Karren angeschoben hatte, wollte über das Friedhofsgitter hinwegsetzen, blieb aber daran hängen. Die nachfolgenden Geister ergriffen ihn alsogleich und zerrissen ihn in tausend Fetzen. Am anderen Tage wurden seine Überreste in der Glockenstube auf dem Kirchturme aufgefunden. Desgleichen waren Karren und Schlegel, welche die Burschen bei ihrer Flucht zurückgelassen, spurlos verschwunden.
Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volksleben. Schilderungen
und Volksbräuche, Geschichten und Sagen aus dem Lungau, Tamsweg 1913;
neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 140f.