Doktor Theophrastus und der Haselwurm

Einst brachte ein Bauer dem berühmten Doktor Theophrastus einen seltsamen Wurm und machte ihm diesen zum Geschenk. Derselbe hatte die Größe eines Wickelkindes und schillerte in allen Farben des Regenbogens. Theophrastus, der sogleich erkannte, daß es ein Haselwurm sei, empfand über dieses Geschenk größere Freude, als wenn ihm ein ganzes Königreich geboten worden wäre. Er befahl seinem Diener, den Wurm sofort aufs beste zu bereiten, jedoch sich beileibe nicht zu unterfangen, davon zu kosten, wenn ihm sein Leben lieb wäre. Dann schwang er sich aufs Roß, sprengte zur Stadt hinaus und über die Felder, so wie er es allabendlich zu tun gewohnt war.

Der Diener machte sich indes rasch an die Zubereitung des Wurmes, um seines Herrn Befehl pünktlichst zu erfüllen. Allein, je länger er seiner Arbeit oblag, desto größer wurde sein Verlangen, von dem Wurme zu kosten. Immer heftiger trat die Versuchung an ihn heran, bis er endlich nicht mehr zu widerstehen vermochte und unterlag. Er kostete also. Kaum hatte er aber den Bissen geschluckt, als urplötzlich eine wunderbare Umwandlung mit ihm vorging. Es wurde auf einmal helle in seinem Inneren, und alles, was er zu wissen verlangte, trat klar vor seine Seele. So dachte er im Augenblick: "Wo mag wohl jetzt mein Herr weilen?" - und sofort sah er ihn - wie das kam, war ihm unerklärlich - draußen auf einem Felde neben einer Gruppe stattlicher Linden vom Pferde springen und einige schöne Blumen pflücken, die eben am Wege standen.

Als Theophrastus wieder heimkam, trat ihm sein Diener entgegen und meinte, die Blumen gewahrend, geschwätzig wie eine Elster: "0 gnädiger Herr! Diesen Strauß herrlicher Blumen habt ihr gewiß draußen auf dem Felde neben den stattlichen Linden gesammelt?"

Da der Doktor diese Frage vernommen, wußte er sogleich, was geschehen sei. Purpurröte des Zornes überflog sein Gesicht, und mit donnerähnlicher Stimme fuhr er den Diener an: "Du hast vom Haselwurm gegessen?"

Den also Ertappten überkam entsetzliche Angst, und fast versagten seine Füße ihm den Dienst. "Ich sehe wohl" - fuhr der Doktor fort - "du bist dir deiner Schuld bewußt!" - und seine Wut erreichte ihren Höhepunkt. Das Schwert, seiner selbst nicht mehr mächtig, aus der Scheide reißend, streckte er mit einem wuchtigen Hiebe den Diener zu Boden. Darauf ging er in die Küche, woselbst der Haselwurm bereits angerichtet seiner harrte, verzehrte ihn und wurde so der allwissende Doktor, dessen Ruhm alsbald keine Grenzen mehr kannte.

Quelle: R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen, Bd.1, Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 270f, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 93.