Der fliegende Schimmel

Zu Baden im Aargau fand um das Jahr 1514 eine Versammlung der Gesandten der dreizehn Kantone und der zugewandten Orte statt, welche im dortigen Herrengarten bewirtet wurden. Um die nämliche Zeit kam Steucheler, der Stadtpfeifer, in St. Gallen unter das Multertor auf der Brücke, woselbst er auf den Bänken vornehme Bürger traf, unter ihnen auch den berühmten Theophrastus Paracelsus, der zur selben Zeit bei seinem Freunde, Doctor Bartholomä Schobinger, im Partnerhofe zu Gaste weilte. Der Pfeifer stand bei ihnen stille und meinte endlich: "Jetzt werden sich die Herren Gesandten zu Baden im Herrengarten lustig machen; denn ich habe vernommen, die angeordnete Gastung finde heute statt. Wäre ich jetzt dort, wollte ich mir mit meiner Zwerchpfeife ein gutes Stück Geld erwerben." Da sagte Theophrastus zu ihm: "Hast du wirklich Lust, das Trinkgeld zu verdienen, so gehe nach Hause und zieh dein bestes Gewand an, nimm deine Pfeife zu dir und komme wieder hierher; ich will dir alsdann ein Pferd geben, auf dem du in einer halben Stunde in Baden sein sollst."

"Ich weiß wohl", erwiderte der Pfeifer, "daß Ihr mehr könnt als andere Leute; d'rum will ich heim und meine Pfeife holen."

Mit diesen Worten eilte er in seine Behausung, wechselte die Kleider, nahm die Pfeife zu sich und kehrte wieder zu Theophrastus zurück. "Herr Doktor", sagte er, "jetzt bin ich geputzt! Wo ist nun der Gaul, auf dem ich binnen jetzt und einer halben Stunde in Baden sein soll?"

"Gehe hinaus zur Schießhütte", entgegnete ihm der Wunderdoktor, "dort wirst du einen Schimmel gesattelt angebunden finden. Hüte dich aber, ein Wort zu reden, bis du zu Baden absitzest!"-

Der Steucheler ging hin, fand den Schimmel wirklich, schwang sich hinauf und sauste im nächsten Augenblicke schon durch die Lüfte, daß ihm Hören und Sehen verging. Nach einer halben Stunde ließ sich das Tier zu Baden an der Schloßhalde zu Boden und verschwand spurlos. Sobald der Pfeifer festen Boden unter seinen Füßen verspürte, ging er alsogleich in den Herrengarten und fing vor den Herren Eidgenossen auf seiner Pfeife meisterlich zu spielen an.

Da ihn der Ehrengesandte von St. Gallen jetzt erblickte, rief dieser: "Ja, Steucheler, bist du auch da? Welcher Teufel hat dich denn hierher getragen?"

"Ja, Herr", entgegnete der Gefragte, "der lebendige Teufel und kein anderer!"

Und nun erzählte er, wie alles gekommen, schloß aber mit den Worten: "Gott behüte mich und meine arme Seele! Auf dem Schimmel begehre ich mein Lebtag nicht mehr zu reiten!"

Der gelehrte Pfarrer, Bartholomäus Anhorn, ein 86jähriger Greis, erzählte dieses Abenteuer im Jahre 1638 dem Bürgermeister Georg Huber. Er hatte es in seiner Jugend von dem Steucheler selbst erfahren, der damals schon ziemlich alt gewesen war.

Quelle: R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen, Bd.1, Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 276f, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 96.