Der Schatz auf der Reichenspitze

An der Grenze zwischen dem Pinzgau und dem Zillertal, in der Gerlos, erhebt sich ein scharfer, mit ewigem Schnee bedeckter Bergkogel, den man die Reiche Spitze nennt. Seit alters her weiß man, daß sich knapp unter dem Gipfel einige Höhlen befinden, in deren Tiefen kostbare Schätze ruhen. Jeder, der den Mut und die Entschlossenheit besitzt, in diese Höhlen vorzudringen, kann dort Edelsteine und kostbare Metalle finden, soviel er nur zu tragen vermag. Im Leben wird es ihm immer gut gehen, aber wer gestorben ist, ist er verdammt, bei den Schätzen in der Höhle zu wachen. Dabei wird er von furchtbarer Kälte gequält, er muß, wie man im Volk sagt, "die kalte Pein erleiden". Es ist immer eine Anzahl von Wächtern auf ihrem Posten in der Höhle und sobald ein neuer Goldhüter ankommt, wird die Seele dessen, der am längsten in der Höhle gewacht hat, erlöst und kann zur ewigen Ruhe und zum himmlischen Frieden eingehen.

Ein Bauer aus Stumm im Zillertale kam einst von einem weiten Marsche heim. Der Morgen graute bereits, wolkenlos war der Himmel und der Tag versprach ein schönes und klares Wetter. Als der Bauer durch seine Wiesen dahinschritt und die üppigen Saaten mit Wohlgefallen betrachtete, dachte er bei sich: "Jetzt heißt' s Sensen dengeln, solange es der Arm aushält."

Er nahm sich vor, so viel als irgend möglich zu mähen, denn es war ein so heißer Tag, daß die Sonne am gleichen Tag schon das Heu rauchdürr machte.

Auf einmal trat sein Nachbar ihm entgegen, der war in ein dickes Lodenwams gehüllt, hatte dicke Pelzfäustlinge angezogen und trug um den Hals einen gestrickten Schal. Der Bauer mußte zuerst lachen darüber, daß ihm mitten im Hochsommer jemand in einer solch winterlichen Vermummung begegnet und fragte ihn neugierig: "Ja, wo willst denn du hin, Nachbar, marschierst vielleicht gar übern Tauern?"

Der Angesprochene erwiderte nur recht unfreundlich und mit einer hohlen Stimme: "Auf die Reiche Spitze muß ich, Schätze hüten."

Kopfschüttelnd sah ihm der Bauer nach, denn er verstand den Sinn dieser Antwort nicht. Als er aber nach Hause kam, überraschte ihn sein Weib mit der Botschaft, daß sein Nachbar in der Nacht vorher plötzlich sterbenskrank geworden war und vor wenigen Augenblicken das Zeitliche gesegnet habe. Nun teilte er seine Begegnung mit und jetzt ging beiden ein Licht auf. Der verstorbene Bauer war nämlich vor Jahren nahe daran gewesen, Haus und Hof zu verlieren, aber über Nacht hatte er auf rätselhafte Art Hilfe gefunden und war in kurzem der reichste Bauer weit und breit geworden. Niemand vermochte sich damals die Sache zu deuten, aber jetzt war alles klar, daß er nur dadurch, daß er in der Höhle auf der Reichen Spitze Schätze gesucht hatte, gerettet worden war. Welchen Lohn aber hatte er nun dafür zahlen müssen!

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Eine ähnliche Begebenheit erzählt man zu Piesendorf. Dort lag ein reicher Bauer im Sterben und klagend standen seine Brüder am Bette und beteten für den Kranken, dessen Rettung längst aufgegeben war. Als er nun die Augen für immer schloß, sahen die Brüder, die glaubten, daß die Seele des Verstorbenen bereits dem Himmel zuschwebte, vor dem Stubenfenster einen Mann vorübergehen. Dieser Mann glich ihrem verstorbenen Bruder aufs Haar, nur hatte er ein dickes Jägergewand an, trug einen langen Bergstock in der Hand und sah überaus traurig drein. Als die Brüder das sahen, erschraken sie sehr und sagten sich: "Gnade Gott seiner armen Seele! Unser Bruder hat sein Geld gewiß aus einer Höhle an der Reichen Spitze geholt und jetzt muß er dort hingehen, um die Schätze zu hüten!" Sie beschlossen aber, ihn zu erlösen, um seine arme Seele zur Ruhe zu bringen. Sie machten sich auf den Weg und als sie sich auf der Mitte des Bergkogels, der Reiche Spitze genannt wird, befanden, fielen plötzlich Nebel ein und es ward so finster um sie her, daß sie kaum einen Schritt vor ihre Füße sehen konnten. Gleichzeitig begann ein furchtbares Dröhnen und Donnern, das um so ärger wurde, je höher sie stiegen. Aber der Gedanke, ihren Bruder zu erlösen, verließ sie nicht und Stärkte ihren Mut, so daß sie, wenn auch am ganzen Leibe zitternd, den Gipfel erreichten. Kaum waren sie auf dem höchsten Punkte des Gipfels angekommen, da hörte das Donnern plötzlich auf, die dunklen Nebel zerrannen in Nichts und der blaue Himmel lachte freundlich auf sie herab. Auf einmal stand, wie aus einem Felsblock herausgetreten, ihr Bruder vor ihnen, dankte ihnen innigst und sagte: "Jetzt bin ich erlöst. Wäret ihr nicht bis hierher gekommen, so hätte ich hier büßen müssen, Gott weiß wie lange. Seid bedankt und lebet glücklich und bescheiden." Damit war er verschwunden. Die beiden Brüder kehrten frohgestimmt nach Hause und beschlossen in Zufriedenheit ihr Erdenleben.

An manchen Orten erzählt man sich auch, daß es immer nur drei Männer sind, die den großen Schatz auf der Reichen Spitze bewachen. Ein Senner, der in der Wilden Gerlos auf der Finkauer-Alm sein Heim hatte, legte sich einst in der Christnacht zur Ruhe. Er hatte manches Scheit Holz in den Herd getan und darum war es lauschig warm und bald schlief er ein. Da wurde auf einmal die Hüttentür aufgerissen und herein traten drei Männer mit mächtig großen Eisschuhen an den Füßen und setzten sich wortlos an den warmen Herd. Der Senner hütete sich wohl, sie anzusehen und schaute nur an und zu im Halbschlaf unter seiner Decke hervor. Bei Tagesgrauen verschwanden die Männer plötzlich und der Senner stand auf, um im Herde Nachzulegen. Wie staunte er aber darüber, als sich in der Pfanne auf dem Herde drei Goldklumpen fanden, die die nächtlichen Gäste dort hineingelegt hatten. Die drei Männer hat er nie mehr gesehen, man soll sie aber in den zwölf heiligen Nächten unterhalb der Reichen Spitze erblicken können, bis zum Hals sind sie im Schnee eingegraben, nur ihre mit Eis bedeckten Häupter ragen daraus hervor.

Quelle: Karl Adrian, Alte Sagen aus dem Salzburger Land, Wien, Zell am See, St. Gallen, 1948, S. 37 - 40