Der Schatz in der Turneiwand

Nahe der Dreiländergrenze Salzburg-Kärnten-Steiermark ragt der 2441 m hohe Eisenhut empor. Ihm zu Füßen liegt der einsame Dieslingsee. An seinen Ufern erhebt sich ein hohes vierkantiges Felsgebilde, das mit seinem abgeplatteten Dache einem morgenländischen Turme gleicht. Lungauische Erzsucher hatten einst in der Gegend das Schurfrecht; sie nannten den merkwürdigen Felsen wohl „Turmei" (Türmchen) und daraus mag der Ausdruck „Turneiwand" entstanden sein.

Ein Wilderer befand sich einst mit zwei Kameraden auf der Gemsjagd am Eisenhut. Da erblickten sie einen prächtigen Gemsbock, der unten in der Nähe des Sees sorglos äste, als wüsste er, dass die Schützen ihn von keiner Seite überraschen konnten. Als die Wildschützen sahen, dass dem Gemsbock so nicht beizukommen war, kamen sie auf den Einfall, auf die Turneiwand zu klettern und von dort aus die Gemse zu erlegen, was ihnen, nachdem sie den Felsen mit Vorsicht erstiegen hatten, auch gelang. Dann sahen sie sich den Felsen, auf dem sie standen, etwas näher an. Da entdeckten sie auf demselben eine Höhle, die sich erst seitwärts hinzog, dann aber senkrecht abfiel. Alsogleich beschlossen die waghalsigen Burschen, sie zu erforschen. Der Kleinste, aber Mutigste unter ihnen, ließ sich an einem Seil hinunter. Als das Seil in seiner ganzen Länge abgerollt war und der Hinabgelassene sich schon unter der Turneiwand befinden musste, ohne dass er ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, zog man das Seil langsam wieder empor und daran hing - bewusstlos der Wilderer. Die beiden waren nicht wenig bestürzt; sie bemühten sich um ihren Gefährten, bis er wieder zu sich kam und erzählten konnte, wie es ihm ergangen war.

Die Höhle war gerade weit genug, dass ein Mensch sich darin umdrehen konnte, und hatte zahlreiche Risse und Vorsprünge, in denen giftiges Gewürm und Nattern hausten: Auch mussten in dem Quergange oben Geier nisten, denn die Überreste ihrer Mahlzeiten waren dort wie im senkrechten Schachte zu finden und das verfaulte Zeug verpestete die Luft. Sie wurde immer schlechter und dumpfer, je weiter der Eindringling hinab kam. Schier endlos schien ihm die Höhle und schon war ihm todbang zu Mute, als er plötzlich tief unten bei dem unsicheren Schein, den seine Laterne hinabwarf, eine Kiste stehen sah eine Kiste ohne Deckel und darin lag Gold, schimmerten Goldstücke, an welchen sich die Augen der Wilderers weideten. Doch konnte er sie nicht mehr erreichen, da ihm infolge der Stickluft und der Aufregung die Sinne geschwunden waren. - Mehr wusste er nicht zu sagen.

Die beiden Wilderer hörten erstaunt zu und beschlossen, das Wagnis nochmals zu unternehmen und alles daranzusetzen, um den Schatz zu heben, sobald sich ihr Gefährte erholt habe. Doch dieser weigerte sich entschieden, nochmals in die Höhle einzudringen. Da auch die beiden anderen nicht den Mut hatten hinabzusteigen, um den Schatz heraufzuholen, ruht dieser heute noch unbehoben auf dem Grund der Felsenhöhle.


Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 130