Das Ofenweibl
Zuhinterst in Zederhaus, dort wo die letzten Häuser stehen, steigen die „Rot'wändöfen" *) auf. An ihrem Fuße erstreckt sich eine Höhle in den Berg, und in ihr befinden sich reiche Goldschätze. Gar oft schon sah man das Gold aus der Höhe herniederhängen, wie Eiszapfen so dick. Aber jedes Mal, wenn man danach langen wollte, wuchsen sie in die Höhe, so dass sie niemand erreichen konnte. Auch auf dem Boden sah man oft Gold liegen, aber jedes Mal, wenn man es aufheben wollte, war es verschwunden. In der Felswand aber ist eine sonderbare fremdartige Schrift eingemeißelt, die niemand lesen kann. Schon mancher Gelehrte hat diese Schrift untersucht, doch keinem ist es bisher gelungen, sie zu entziffern.
Vor vielen Jahren vollführten dort Geister ein gar böses Spiel. Ein altes vermummtes Weibl mit erdfahlem Gesichte trieb des Nachts sein Unwesen, so dass sich bei einbrechender Dunkelheit niemand mehr vorbeizugehen getraute. Nahte jemand zu nächtlicher Stunde diesem Orte, so trat das Ofenweibl aus seiner Höhle und machte allerhand wilde Gesten und Zauberzeichen, so dass die ahnungslosen späten Wanderer erschreckt von dannen eilten. Besonders auf die Wilderer hatte es das Ofenweibl abgesehen. Es suchte sie durch sein plötzliches Erscheinen zu erschrecken und in die Flucht zu jagen.
Schon mancher Wildschütz hatte seinen Stutzen darauf zu richten versucht, ließ aber wieder ab, denn ohne geweihte Kugel kann man einem Zauberwesen nichts anhaben. Einmal kam der alte Schlierer, ein Bauer in Zederhaus, des Weges. Da trat das Ofenweibl unversehens aus seiner Höhle, um ihn gleich den anderen zu verscheuchen. Der Bauer aber ließ sich nicht einschüchtern, riss den Stutzen von der Schulter und richtete ihn auf den vermeintlichen Geist. Da fing das Weibl gar jämmerlich zu schreien an und bat, ja nicht zu schießen. Da ließ der Schlierer den Stutzen sinken. Seit diesem Vorfall aber hat man vom Ofenweibl nichts mehr gehört.
*) Niedere Felsenkegel.
Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu
bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 129