Das Freimannsloch

An der Dreiländerecke Salzburg-Kärnten-Steiermark erhebt sich der 2334 m hohe Königsstuhl und nördlich davon stürzt eine senkrechte Felswand ab. Sie wird die „Wellische Kraxn“ *) geheißen. Am Fuß dieser Felswand befindet sich eine portalähnliche Öffnung. Dies ist der Eingang zum Freimannsloch, einer Felsenhöhle, in der große Schätze aufgespeichert sein sollen.

Einige Stunden von dieser Höhle entfernt dehnt sich die „Blutige Alm“, auf der zur Zeit der Völkerwanderung zwischen den Slawen und Bajuwaren eine große Schlacht geschlagen worden ist. In dieser Schlacht fand auch der Bayernherzog Diet mit seiner Gemahlin Gleistrada den Tod. Als nun die Bayern sahen, dass ihr Herzog tot und die Schlacht verloren sei, schafften sie alle Kostbarkeiten und Schätze, die sie mit sich führten, in die nahegelegene Felsenhöhle und verbargen sie dort in einem sicheren Versteck, damit sie den Feinden nicht zur Beute fielen.

Man weiß wohl, dass diese Schätze dort versteckt sind, und viele sind schon hingegangen, sie zu suchen, aber noch keinem ist es gelungen, sie zu finden. Dass dies nicht geschieht, darüber wacht der Geist dieser Felsenhöhle, der blutige Freimann, der, mit einem mächtigen Schwert bewaffnet, auf der großen eisernen Kiste sitzt, zu deren drei mächtigen Schlössern er die Schlüssel bei sich trägt. Wer es wagt, ihm diese abzunehmen, dem gehören nicht nur die in der Höhle verborgenen Schätze, sondern er erlöst auch den Freimann von dem Bann, der ihn hier gefangen hält.

Aber nicht jedermann ist imstande, dieses Werk zu vollbringen. Nur eine Person von reinem Lebenswandel vermag bis zu den Schätzen vorzudringen und sie zu heben. Man muss an einem Sonnwendtag eine Stunde vor Sonnenaufgang bei der Höhle sein, denn nur an diesem Tag und zu dieser Stunde sind die hier aufgestapelten Schätze dem Auge des Besuchers sichtbar. Wer das Glück hat, zu dieser Stunde in die Höhle vorzudringen und den Freimann zu treffen, der soll sich durch das erschreckende Aussehen und das gräuliche Gebaren des Gespenstes nicht abhalten lassen, sondern ruhig hingehen und ihm die Schlüssel, die er am Gurte trägt, abnehmen. Ist dies geschehen, dann ist der Freimann erlöst und er wird demjenigen, welcher ihn vom Bann befreite, zum Dank die hier verborgenen Schätze übergeben.

Das Freimannsloch ist weitum bekannt; aus verschiedenen Ländern sind schon Leute dort gewesen, um nach den Schätzen zu suchen. Andere erzählen wieder, der Freimann trete jedem ohne Unterschied mit seinem blutigen Henkerschwert entgegen. Er stößt ihn damit in den Abgrund oder blendet ihm die Augen. Dann kann er entweder die reichen Schätze nicht sehen oder er hält sie für wertloses Gestein, und enttäuscht zieht er wiederum ab.

*) Wellische = welsche.

Quelle: Michael Dengg, Lungauer Volkssagen, neu bearbeitet von Josef Brettenthaler, Salzburg 1957, S. 132