DES KAISERS BART

Alle hundert Jahre erwacht Kaiser Karl und sendet von seinem dem Leben wiedergegebenen Gefolge einen Edelknecht hinauf zum Geiereck, um nachzusehen, ob die Raben noch den Berg umkreisen. Währenddessen naht des Kaisers holde Tochter, mißt die Länge des Bartes an der Rundung des Tisches, und wenn sie sieht, daß er zum drittenmal noch nicht herumreicht, entströmen Tränen ihren Augen und werden im Geflechte des Haares zu Perlen. Auf des zurückkehrenden Edelknaben Meldung, daß noch Raben den Berg umschwärmen, neigt sich das Haupt des Kaisers wieder auf die Brust, und mit einem Wehrufe versinken er und das glänzende Gefolge in die alte Erstarrung. Doch wenn die Zeit der höchsten Not hereinbricht, dann erfüllt sich auch der Spruch der Verzückung. Die Raben verlassen dann den Berg, um die Leiber der edelsten Deutschen, welche durch Verrat gefallen im Kampfe der Zwietracht oder gegen Unterdrückung, zu zerhacken, und der ausgesandte Edelknecht meldet hocherfreut das Verschwinden derselben.


Quelle: Huber, Nikolaus, Sagen vom Untersberg, Salzburg 1901, Nr. 58