Das Brauttuch

Als vor mehreren hundert Jahren die Türkenkriege ausbrachen, mussten fast alle Männer fort, so dass Stoder nahezu nur von Weibern bevölkert war. Der junge Schmalzerwirt musste auch einrücken und gerade am Vortage seiner Hochzeit. Da nahm die Braut ihr prächtiges Halstuch, zerriss es in zwei Theile und gab die eine Hälfte davon ihrem Bräutigam. Beide versprachen sich gegenseitige Treue bis zu seiner Wiederkunft. Nie mehr hörte man etwas von dem fortgezogenen Schmalzerwirt. Nach 30 Jahre langem Warten entschloss sich endlich die Braut zu heiraten, da ihr erster Bräutigam doch nicht mehr am Leben sein konnte. Wieder war es ‘am Tage vor der Hochzeit, als die Leute von Ferne einen Reiter kommen sahen, angethan mit prächtigen Gewändern und mit glänzenden Waffen ausgerüstet. Er gieng in den Schmalzerhof, niemand aber hatte eine Ahnung, dass es der längst todtgeglaubte Besitzer sei, als der er sich durch Vorweis des halben Brauttuches zu erkennen gab. Da wurde freilich aus der neuen Hochzeit nichts, denn der Besitzer führte seine Braut nach so langer Trennung als tüchtige Wirtin ins Haus. Lange noch wurde das Brauttuch, die schimmernde Rüstung und andere Andenken an den Türkenkrieg im Schmalzerhof aufbewahrt zur Erinnerung an diese Begebenheit.

Quelle: Hinterstoder mit dem Stoderthale, Kleine Orientierungs – Darreichung von A. N. Gerhofer, Selbstverlag, Linz, Druck von S. Tagwerkers Witwe, [um 1891]
Zusendung von Norbert Steinwendner, am 5. Juni 2008