DIE ZWERGENHÖHLE BEI OBERNBERG

Ein Bauer aus der Gegend von Obernberg am Inn war in große Not geraten. Er hatte sich das ganze Jahr früh und spät in seinem kleinen Anwesen geplagt, mit großem Fleiß seine Felder bestellt, hatte gepflügt, gejätet und im Sommer im Schweiße seines Angesichts mit seinen Kindern sich um die Hereinbringung seiner Ernte bemüht. Aber der Frost hatte schon im Frühjahr die Blüten der Obstbäume vernichtet, der Hagel schlug die Körner aus den Ähren, und lang dauernde Regengüsse richteten schweren Schaden an der Heuernte an. Als er dann nach der Ernte den Ertrag des Jahres überblickte, sah er mit Schrecken, daß er kaum soviel hatte, um bis zur nächsten Ernte mit seiner Familie das Auskommen zu finden. In früheren Jahren hatte er regelmäßig einen Teil seiner Feldfrüchte auf dem Markt verkaufen und mit dem Erlös seine Schulden zahlen können. Diesmal aber verblieb ihm kein Hälmlein und kein Körnlein, das er zu Geld machen konnte. Und schon waren wieder die Steuern fällig, seine Gläubiger erwarteten die Bezahlung der rückständigen Zinsen, und in Haus und Hof waren viele Anschaffungen nötig.

Kummervoll machte er sich eines Tages auf den Weg, um in einem entfernt gelegenen Dorf die Verwandten seiner Frau aufzusuchen und um ein kleines Darlehen zu bitten, wovon er die dringendsten Schulden und die Steuern bezahlen wollte. Es war ein schwerer Gang, denn es kam ihm nicht leicht an, anderen Leuten seine Not zu klagen, auch machte er sich nicht allzu viele Hoffnungen über den Erfolg seiner Bitte, da die Verwandten selbst nicht gerade reich waren.

So schritt er, seine hoffnungslose Lage überdenkend, durch eine finstere Schlucht. Müde und verzagt setzte er sich auf einen Felsblock am Weg und murmelte vor sich hin: "Ach, wenn mir doch irgendein höheres Wesen, eine gütige Fee oder ein freundlicher Kobold, in meiner unverschuldeten Not zur Hilfe käme!" Wehmütig sah er dem munteren Spiel der Eichhörnchen in seiner Nähe zu, hörte in der Ferne den heiteren Gesang der Vögel, da war es ihm, als vernähme er hinter seinem Rücken leises Stimmengewirr. Doch als er sich umdrehte, sah er niemand. Aber bald vermeinte er wieder Stimmen zu hören und erhob sich, um durch die Bäume zu spähen. Er sah zwar kein menschliches Wesen, aber die Laute waren jetzt deutlicher zu hören, und er zwängte sich in der Richtung des Schalles durch das Gebüsch. Das Geräusch verstärkte sich, und plötzlich sah er am Rande des Dickichts auf einer grünen Waldwiese Hunderte von kleinen Gestalten, die dort standen und saßen und unter fröhlichen Gesten und Reden herumsprangen, sich jagten und spielten. Inmitten des Platzes stand ein wunderschöner, weiß und goldig schimmernder Wagen, an den sechs weiße Ziegenböcke gespannt waren. Im Wagen aber saß ein alter, ehrwürdig aussehender Zwerg, in einen purpurnen Mantel gehüllt, eine glitzernde Krone auf dem Haupt. Es war der Zwergenkönig, der mit gnädigem Blick dem fröhlichen Treiben seiner Untertanen zusah.

Der Bauer blieb regungslos in seinem Versteck stehen und beobachtete das bunte Treiben, das sich vor seinen Augen entfaltete. Eine Weile hatte er unbemerkt hinter seinem Busch gelauscht, als plötzlich ein kleines Männlein im Spiel mit einem zweiten auf das Gebüsch zugelaufen kam. Mit einem lauten Schrei prallte es erschrocken vor dem großen Menschen zurück, der da mit einemmal vor ihm stand. Sogleich kamen die anderen Zwerge herbei und führten den Bauern zu ihrem König, der den fremden Eindringling auszufragen begann. Der Bauer klagte dem Zwergenkönig in bewegten Worten seine Not, und dieser schien von den offenen Worten des einfachen Mannes gerührt. Er ließ alle Zwerge vor seinen Wagen treten und befahl ihnen, zu einem nahe gelegenen niederen Hügel voranzugehen und das unsichtbare Tor aufzuschließen; er selbst fuhr mit seinem glänzenden Gespann hinterdrein und lud den Bauern ein, mitzukommen. Ein langer, nur schwach beleuchteter Gang führte ins Innere des Hügels zu einem zweiten eisernen Tor, dessen Flügel weit offenstanden.

Vor den Blicken des Bauern lag in strahlendem Lichterglanz ein riesiger Saal, in dem die Wände entlang große Haufen von Gold, Silber und Edelsteinen, aufs schönste geordnet wie die Haufen von Körnerfrucht auf dem Schüttboden eines reichen Bauern, aneinandergereiht lagen. Während er fassungslos noch diesen unermeßlichen Reichtum bestaunte, trat einer der Zwerge an ihn heran und forderte ihn mit freundlichen Worten auf, in den Nebenraum zu kommen, denn das Essen stehe bereit. Der Bauer folgte seinem liebenswürdigen Wirt in das anstoßende Zimmer, wo der König mit seinen Mannen an einer festlich gerichteten Tafel saß. Da wurden nun Speisen und Getränke aufgetragen, daß die Tische sich bogen, und ein leckeres Gericht folgte dem andern. So gute Sachen hatte der Bauer noch nie gesehen, geschweige denn gegessen; und immer, wenn er meinte, genug zu haben und nicht mehr weiteressen zu können, ermunterten ihn die freundlichen Zwerge zuzugreifen, und der Bauer aß und aß, wie er sein Lebtag noch niemals getan hatte.

Zwei Tage dauerte die festliche Schmauserei, die mit fröhlichem Geplauder und Gelächter gewürzt war. Am dritten Tag ließ der König seinen Gast rufen und fragte ihn, wie es ihm hier gefalle und ob er nicht auf immer dableiben wolle. Da fielen dem Bauern voll Sorge Ehefrau und Kinder ein, die von seinem Verbleiben nichts wußten, und alle Not, die ihn und seine Familie auf Erden erwartete, kam ihm wieder zu Bewußtsein. "Herr", sagte er mit bebender Stimme, "in Eurem Reich ist es wunderschön, hier gibt es keine Not und keine Sorgen, und ich würde wohl gern für immer dableiben; aber droben auf der Erde leben meine Frau und meine Kinder in Not und Entbehrungen; sie wissen nicht, wo ich hingekommen bin, und warten gewiß mit Angst auf meine Heimkehr. Ich bitte Euch, laßt mich wieder zu den Meinen nach Hause gehen!"

Da nickte der Zwergenkönig würdevoll und sagte: "Morgen sollst du wieder zu deiner Familie heimkehren. Aber vorher darfst du dir zum Andenken aus meinen Schätzen auswählen, was du willst."

Die Zwerge brachten ihm nun einen großen Sack und legten ihm Gold und Silber und verschiedene Kleinodien in Menge zur Auswahl vor. Der Landwirt aber packte in den Sack, soviel er glaubte schleppen zu können, vor allem Gold; denn das, dachte er, sei wohl am wertvollsten von allem.

Am andern Morgen nahm er Abschied vom Zwergenkönig, der ihm die Hand reichte, und von den freundlichen Zwergen und schritt, mit dem schweren Sack bepackt und von einigen Gnomen begleitet, durch den langen Gang zum Ausgang der Höhle. Bald sah er sich wieder auf der grünen Waldwiese, wo er die Zwerge vorgefunden hatte, und machte sich auf den Heimweg zu seiner Familie, die wegen seines langen Ausbleibens schon die ärgsten Befürchtungen gehegt hatte; denn er war nicht zwei Tage, wie er gemeint hatte, sondern volle acht Tage fort gewesen. Nun aber hatte alle Not ein Ende, und dankbar gedachte der Landwirt in seinem Wohlstand der hilfsbereiten Zwerge.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich, o. A., o. J., Seite 300