Aus Putzleinsdorf längst vergangenen Tagen

Was ich hier aufzeichnen will, hat mir vor Jahren eine alte Frau erzählt. Sie selbst hat alles ans dem Munde des „Ähnl's“ vernommen, als sie als junges Mädchen bei einem Bauer in der Putzleinsdorfer Pfarre in Dienst war. Gekannt zwar hat auch der „Ähnl“ den „Namenlosen“ - von dem der folgende Artikel handelt - nicht mehr, aber von seinem Vater und noch mehr von seinem Groß­vater hat er vom obigen oft erzählen gehört. Diese beiden haben ihn noch per­sönlich gekannt.

Nach Angeführten zu schließen, mochte es vor vielen, vielen Jahren gewesen sein, als bei einem Putzleinsdorfer Bauern spät abends noch ans Haustor geklopft wurde. Der junge Bauer ging nachsehen, wer wohl noch Einlaß begehren mag. Draußen stand ein schon ziemlich alter Mann. Er bat um Unterkunft für ein paar Tage, da er von weit herkomme und schon ganz erschöpft sei, wie er sagte, was übrigens sein ganzes Äußeres bestätigte. Zwar nicht gern, aber doch gewährte man ihm seine Bitte. Es wurde ihm im Austragshäusel eine Kammer eingeräumt, mit dem Bedeuten, sich's bequem zu machen und zu den Mahlzeiten möge er in die Bauernstube kommen, dort bekäme er zu essen. Dankend nahm er das Anerbieten an. Wollte man den Unbekannten - er wies weder Papiere, noch Dokumente über seine Person vor - über sein Woher, Wohin befragen, gab er stets ausweichende Antworten und so gab man ihm kurzweg den Namen der „Namenlose“, welcher ihm auch zeitlebens blieb. Eines Morgens erschien er nicht in der Bauernstube, man ging nachsehen, was es mit ihm sei. Man fand ihn stark fiebernd und allerhand wirres Zeug redend, vor. In seiner Phantasie entrollte er nun Bild um Bild aus seiner Ver­gangenheit; die mag gar schrecklich und stürmisch gewesen sein. Er erzählte von jahrelanger Kerkerhaft, zu der er eines grauenhaften Mordes wegen, verurteilt worden sei, er beteuerte auch seine Unschuld; gleichzeitig aber brüstete er sich wieder der angewandten List und Schlauheit, mit denen er sein armes Opfer an sich lockte. Dann quälten ihn wieder schreckliche Gewissensbisse. Den Teufel sah er in den entsetzlichsten Gestalten um sein Bett herum lauern - natürlich alles in seinem Delirium.

Begreiflicher Weise jagte all das Vernommene den Haus- und Dorfbewohnern, namentlich den Weibspersonen ungeheuren Schrecken ein. Diese hätte man um keinen Preis bewegen können, ins Austragshäusel zu gehen. Aber selbst den Mannsbildern war nicht ganz geheuer. Einen Mörder und Zuchthäusler, auf den ohnedies der Teufel schon wartet, im Dorfe zu haben. Der Gedanke beängstigte alle Gemüter.

Der Kranke wäre somit ganz seinem Schicksal überlassen gewesen, hätte sich seiner nicht der alte „Ähnl“ angenommen. Dieser ging gar nicht mehr, weder bei Tag noch in der Nacht vom Krankenlager weg. Alle möglichen und unmöglichen Hausmitteln wandte er an dem Patienten an, um sein Fieber und seine Schmerzen zu mindern. Und nicht umsonst. Nach Tagen wich das Fieber, das Bewußtsein kehrte wieder zurück, langsam erholte sich der „Namenlose“ zur Freude des Großvaters und zum Schrecken der Übrigen; diese wären ihn ja durch sein Ableben losgeworden und so mußten sie mit der Tatsache rechnen, ihn vor dem Frühlinge nicht mehr los zukriegen. So ohne weiters konnten sie ihn doch nicht vor die Tür setzen und seinen Verhängnis preisgeben. Denn es war ein sehr stürmischer, schneereicher Winter. Oder vielleicht hätte man es doch getan, wäre nicht der alte „Ähnl“ gewesen? Es war merkwürdig, wie gut sich die Zwei verstanden aufeinander. Ganze Nachmittage hielt sich der gute Alte beim „Namenlosen“ im Austragsstübl auf. Dieser wußte auch gar viel zu erzählen von fremden Ländern und Leuten, von Kriegen und Siegen, von trotzigen Rittern und holden, sanften Rittersfrauen. Weit mußte er in der Welt herumgewandert sein und viel gesehen und erlebt haben dabei. Nie aber berührte er mit einem Worte seine eigene Vergangenheit. Darüber breitete er sorgfällig den Schleier der Verschwiegenheit.

Der Frühling war schon längst ins Land gekommen. Der „Namenlose“ wäre auch schon wieder halbwegs reisefähig gewesen. Doch niemand schaffte ihn fort, im Gegenteil, man hatte sich an seine Anwesenheit gewöhnt. Machte er sich ja durch allerlei Handgriffe, wo es not tat, nützlich. Selbst die Scheu und  der Schrecken vor seiner Person war von allen Haus- und Dorfbewohnern gewichen und machte sogar einer freundlichen Gesinnung für ihn Platz. Er tat ja auch keinem Menschen was zuleide. Jeden Sonn- und Feiertag sah man ihn in der Kirche, nie aber an der Kommunionbank, mag sein, daß ihm doch innere Gewissensbisse davon abhielten. Gott allein weiß es. Der alte „Ähnl“ hoffte stets, er werde ihm gegenüber einmal ein aufrichtiges Bekenntnis über seine Schuld oder auch Unschuld ablegen. Doch er hoffte umsonst.

An einem Spätherbsttag fiel es allen auf, daß der sonst so Gesprächige, äußerst schweigsam war, auch das Essen schmeckte ihm nicht. Aus Befragen sagte er, daß ihm unwohl sei. Zeitlich begab er sich ins Austragshäusel zur Ruhe. Als er des Morgens nicht zum Vorschein kam, schickte man die „Dirn“ mit der Suppe hinunter zu ihm. Als sie eintrat, bot sich ihr ein unheimlicher Anblick. Der „Namenlose“ stand mitten in der Kammer, schrecklich verzerrt war sein Gesicht. Schaum trat aus seinem Munde, er selbst zitterte am ganzen Leibe wie Espenlaub. Mit ganz veränderter Stimme bat er um den alten „Ähnl“. Als dieser kam, fand er nur mehr eine Leiche vor. Es war alles zu spät, da die Leiche des Unglücklichen gleich nach erfolgtem Tode ganz schwarz geworden sein soll, gab man sich der Meinung hin, er habe sich vergiftet. Deshalb soll er auch nicht in ge­weihter Erde bestattet worden sein.

Keine Seele hat je nach dem Unbekannten gefragt, nicht einmal ein Totenschein soll ihm ausgestellt worden sein. Für die Welt war er ja längst gestorben. All' seine dunklen Geheimnisse und all' die Dinge, die den Haus- und Dorfbewohnern rätselhaft waren, hat er mit sich ins Grab genommen, an dem keine einzige Träne vergossen worden wäre, hätte nicht der gute, alte „Ähnl“ - geweint.

Quelle: Aus Putzleinsdorf längst vergangenen Tagen, von Anny Ehrengruber in Wien, in: Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Mühlviertels, Zehntes Bändchen, Rohrbach 1925, S. 53 - 55.