SCHLOß GREIFENSTEIN

Schloß Greifenstein, zwei Meilen von Wien und unweit dem Donaustrome gelegen, wurde im elften Jahrhundert von einem Ritter bewohnt, dessen größte Lust Fehde oder Jagd war. Seine Nachbarn hatten vor ihm wenig Ruhe, er aber hielt sich in seiner schier unüberwindlichen Veste gar wohl geborgen. Er hatte eine schöne und tugendhafte Gemahlin, doch liebte sie den Schmuck und war stolz auf eine Zier, welche die Natur ihr verliehen, herrliches, langes Haar, das sie gern in künstliche Zöpfe flocht.

Burg Greifenstein © Harald Hartmann

Schloß/Burg Greifenstein
© Harald Hartmann, 25. Juni 2006

Einst kehrte von einem Heereszuge im Geleit des Herzogs Albert III. dieser Ritter in seine Burg zurück, da kam ihm sein Gemahl, köstlich geschmückt und ihre Zöpfe in der zierlichsten Weise geflochten, entgegen. Es war aber in des Ritters Gemüt ein schlimmer Verdacht und Groll gegen seine Hausfrau erwacht, der genährt wurde durch einen bösen Diener. Er hielt sie für untreu und wähnte, daß sie nicht für ihn sich so köstlich geschmückt habe, sondern für den jungen Burgkaplan, der allein während des Ritters Abwesenheit Zutritt zur Burgfrau gehabt. So begann er ein strenges Gericht, ließ den Burgkaplan in Fesseln legen, warf ihm seine Schuld vor und forderte das Geständnis derselben. Vergebens beteuerten die hart bedrohte Gattin und der junge Geistliche ihre Unschuld, er ließ den Kaplan ins Verlies werfen, schnitt seiner Gemahlin die schönen langen Zöpfe ab und schwur, der Pfaffe solle nicht eher frei werden, bis das Steingeländer der Stiege von den Händen der Auf- und Abgehenden so weit ausgehöhlt sei, daß man in die Höhlung die Zöpfe der falschen Frau legen könne.

Die arme, unschuldig gemißhandelte Burgfrau weinte und betete, und es schien, als rühre eine unsichtbare Macht das Herz des Ritters. Er verließ sein Turmgemach, wollte Befehl geben, den Gefangenen ihm noch einmal vorzuführen, glitt auf der glatten Stiege aus, stürzte die Treppe herab und brach das Genick.

Von da an wandelte des Ritters unseliger Geist allnächtlich seufzend um die Stiege, ließ sich auch wohl am Tage blicken und rief den Auf- und Abgehenden zu: "Greif'n Stein! Greif'n Stein!", damit das Steingeländer sich früher aushöhle, denn statt des erledigten Kaplans war nun des Ritters Geist verurteilt, so lange zu wandeln, bis die Griffe der Leute den Stein gehöhlt, so tief, daß man zwei Frauenzöpfe nebeneinander hineinlegen könne. Davon hat hernach das Schloß den Namen Greifenstein erhalten.

Man liest auch, daß Herzog Alberts Gemahlin, innigen Anteil nehmend am Geschick der schuldlosen Rittersfrau, sich die eigenen Haare abschneiden ließ, die der Herzog, ihr Gemahl, seinen eigenen Haaren beiflocht, welcher auch zu ihrer und aller tugendhaften Frauen Ehre eine Zopfgesellschaft stiftete.


Quelle: Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Österreich, Ludwig Bechstein, 1840