EIN SCHLEIER FÜR KLOSTERNEUBURG

Als Markgraf Leopold und seine Gemahlin im Schloß auf dem Kahlenberg sich an einem offenen Fenster besprachen und in christlichem Eifer verlangten, der Himmel möge ihnen den tauglichsten und gottgefälligsten Ort zur Gründung einer Kirche und eines Klosters durch ein Zeichen weisen, siehe, da ist urplötzlich bei schönem, stillem und heiterem Himmel aus göttlicher Anordnung der Hauptschleier der tugendsamen Gemahlin Agnes durch einen unverhofften Windstoß erfaßt und in den nahe an der Donau liegenden finsteren Wald getragen worden - vor beider Augen und im ersten Jahr ihrer Vermählung Anno 1106.

Klosterneuburg © Harald Hartmann

Klosterneuburg
© Harald Hartmann, 29. Oktober 2004

Dieser Schleier, der noch bis auf den heutigen Tag zu Klosterneuburg als ein Los- oder Kennzeichen des gestifteten Gotteshauses gebührendermaßen unter anderen Reliquien aufbehalten und gezeigt wird, ist in Wind, Regen und Schnee, vor Menschen und unvernünftigen Tieren sicher, unverletzt und unversehrt im Wald hängengeblieben und endlich im neunten Jahr vom heiligen Markgrafen Leopold, als er in dieser Gegend des Waldes jagte, unter Gesträuch und Hecken auf einem Hollerbaum (dessen Stamm auch noch vorhanden ist) ausgebreitet durch die bellenden Jagdhunde gefunden worden. Weil nun Leopold der Heilige durch das Auffinden des Schleiers erkannte, daß ihm dieser Ort für die Erbauung des von ihm vorgesehenen Gotteshauses von Gott auf wunderbare Weise gezeigt wurde, hat er alsbald den Schleier (welcher so viele Jahre unversehrt auf der Hollerstaude hängengeblieben war) voll Freude seiner Gemahlin nach Hause gebracht, die wundersame Auffindung mit allen Umständen erklärt, worauf sie höchst erfreut war und Leopold ungefähr mit den Worten angeredet haben soll:

Geliebter Ehegemahl, dies ist der Ort, von welchem Gott will, daß er ihm geweiht werde.

Leopold ließ deshalb den Wald ohne Verzug aushauen, Stock und Stauden ausrotten, den Ort zubereiten, den Platz abräumen und alle möglichen Anstalten für den Bau treffen. Weil aber Leopold diesen Ort nicht als sein eigenes und freies Gut erkannte, hat er zur besseren Sicherheit in allen Städten und Märkten fünf Jahre hintereinander sich öffentlich als rechtmäßiger Herr dieses Grundes ausrufen lassen und denen, die rechtmäßigen Anspruch darauf ordentlich nachweisen konnten, ihr Grundstück doppelt bezahlt. Auf solche Weise wurde am 12. Juli 1114, weil die notwendigen Materialien dafür schon beschafft waren, an dem Ort, wo die Hollerstaude mit dem Schleier gestanden war, der Grundstein gelegt und angefangen zu bauen.


Quelle: Adam Scharrer, Oesterreichische Marg-Graffen ... - Wien 1670