DER RIESE AUF DEM GREIFENSTEIN

Vor vielen Jahren hauste auf dem Greifenstein ein altes Mütterchen, das durch seine Wunderkuren weit und breit bekannt war. Zur selben Zeit lebten in der Stadt Korneuburg zwei Brüder, Christian und Leopold geheißen, die beide an einer Magenkrankheit litten. "Ich denke," rief eines Tages Christian, "wir haben uns lange genug von den gelehrten Doktoren an der Nase herumführen lassen und ihnen manch schweres Stück Silber in die Taschen gesteckt. Versuchen wir es mit der Zauberfrau auf Greifenstein." "Nun, nun," meinte Leopold, "ganz richtig dürfte es mit der alten Hexe denn doch nicht bestellt sein!" "Schlimmer als wir's bisher getroffen haben, können wir's nicht leicht mehr treffen; um die Gesundheit wieder zu erlangen, läßt sich ein Versuch wohl wagen." Nach längerem Hin-und Widerreden einigten sich die Brüder und fuhren über die Donau dem Greifensteine zu.

Die alte Kurkünstlerin prüfte mit bedächtigen Mienen den Pulsschlag der Patienten, langte endlich aus verschiedenen Schränken verschiedene Krauter hervor und erklärte in langer Rede die Art und Weise des Absudes. "Täglich vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang müßt ihr ein mäßiges Trinkhorn voll leeren und binnen drei Wochen seid ihr gesund und stark genug, den Schatz zu heben, der in den Kellern dieses Schlosses ruht!" Die Brüder dankten, drückten der Alten einen Taler in die Hand und schifften in ihre Heimat zurück. Die Krankheit war wirklich binnen wenigen Tagen behoben, dagegen begann die Seele zu kränkeln. Das seltsame Weib hatte mit den leicht hingeworfenen Worten von den unterirdischen Schätzen die Leidenschaft der Brüder wachgerufen.

Leopold und Christian waren nicht mehr die harmlosen Junggesellen von ehedem. "Erinnerst du dich noch, Christian," fing Leopold an, "an die letzten Stunden unseres Großvaters, der hat auch von Schätzen, von unermeßlichen Schätzen gesprochen." "Wohl besinne ich mich," fiel Christian ein, "es ist auch nicht unmöglich; in den alten Burgen herrschte ja Reichtum und Pracht!" "Laß uns unser Glück versuchen. Im Dunkel der Nacht klettern wir den Greifenstein hinan und graben unter dem Torgewölbe, das der Großvater als den Fundort bezeichnet, frisch und lustig darauf los!" Gesagt, getan. Mit den nötigen Werkzeugen wurde die Fahrt angetreten. Stundenlang beim matten Ampelschein arbeiteten die Brüder. Weder Gold noch Edelgestein ward gefunden. Endlich traf das Grabscheit auf eine mächtige Steinplatte. "Rüstig vorwärts!" rief Christian. "Das heißt im Schweiße seines Angesichtes sich sein Brot verdienen!" spöttelte Leopold. "Jawohl, die verdammte Platte wiegt ihre tausend Pfund!" Nach unsäglichen Mühen war der Stein emporgehoben; doch statt der geträumten Schätze zeigte sich ein riesiges menschliches Gerippe, dem jedoch der Schädel fehlte. "Christian!" fuhr Leopold empor, "den Kerl möchte ich lebend mit seinem Kopf vor mir stehen sehen." "Ein sauberer Fund das," wetterte Christian und schlug mit seiner Axt in die Knochen hinein. "Du machst dem Goliath dadurch die Auferstehung unmöglich - -" "Er wird, wenn's gilt, die Splitter schon zusammenfinden!" "Auch gut!" Solches sprachen die Frevler und schleuderten die Knochen nach allen Richtungen umher.

Am Abend des folgenden Tages saßen die Brüder noch erschöpft von den Anstrengungen der Schatzgräberei, in ihrer Stube. Der Mond stieg voll und bleich über den Bergen empor. Da klopfte es an den Fensterladen.

"Wer mag das sein?" fragte Leopold. "Macht sich der Nachbar Kunz einen Spaß?" bemerkte Christian. Das Klopfen wiederholte sich - die Balken flogen auf. Ein furchtbar großes Antlitz mit flammenden Augen zeigte sich den entsetzten Brüdern. "Hab meine Knochen wirklich zusammengelesen und komme nun, meine Aufwartung zu machen. Ihr habt ja den Wunsch ausgesprochen, mich zu sehen!" Und die Erscheinung wuchs und wuchs in den Himmel empor, der sich immer mehr verfinsterte.

Dumpfe Donner rollten, fahle Blitze zuckten. Die Brüder brachen ohnmächtig zusammen und verfielen in eine unheilbare Krankheit, an der sie nach wenigen Wochen starben. Von da ab wagte niemand mehr, das unheimliche Gewölbe zu betreten und den Riesen in seinem Schlafe zu stören.


Kommentar: Ludwig Bowitsch, Vom Donaustrande
Quelle: Carl Calliano, Niederösterreichischer Sagenschatz, Wien 1924, Band II, S. 149