MAYERLING

Wie ich an anderer Stelle heute zu melden mich beehrte, wird amtlich an der Version festgehalten, daß sich Kronprinz Rudolf erschossen habe, und dabei werden die aller Welt ungefähr bekannten Nebenumstände verschwiegen.

Ich muß auf die Sache nochmals zurückkommen, weil von sehr ernsten Leuten auch hieran gezweifelt wird und man immer wieder auf das Gerücht zurückkommt, daß der Kronprinz sowie die auf seinem Bett gefundene junge Dame ermordet worden seien.

Mayerling © www.mayerling.info

Mayerling/Niederösterreich, Karmel St. Josef
Bild: mayerling.info

Hierfür sprächen folgende Umstände: Man habe, nachdem die Angabe des Herzschlages nicht haltbar gewesen, den Selbstmord vorgegeben, um die Tatsache der Gegenwart einer weiblichen Leiche nicht einzugestehen, und zwar nicht allein aus Schonung für die Kronprinzessin und aus Rücksicht auf die öffentliche Moral, sondern auch weil man fürchtete, die Kirche könnte beim Begräbnis Schwierigkeiten machen. Der Beweis, daß der Ermordete im Konkubinat betroffen, hätte die kirchlichen Ehren ebenso schwierig, wenn nicht unmöglich gemacht. Wenn der Mord eingestanden würde, so hätte die öffentliche Meinung die Ermittlung des Täters und des sen Bestrafung gefordert; hiezu sei aber eine genaue gerichtliche Erhebung der Umstände nötig gewesen, und der ganze wenig moralische Tatbestand wäre ans Licht gekommen. Um dies zu vermeiden, hätte sich der Kaiser entschlossen, das vielleicht viel schlimmere und beschämendere Eingeständnis des Selbstmordes zu machen, welcher durch Wahnsinn erklärt werden konnte.

Herr Galimberti, der wohl über gute Quellen verfügen dürfte, teilt diese Ansichten: Er hat aber nichts destoweniger die amtliche Version sofort akzeptiert, um sowohl dem Papst als auch dem hiesigen Hof große Verlegenheiten zu ersparen. Er hält auch jedermann gegenüber an dieser Version fest.

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hat er mir indessen Nachfolgendes mitgeteilt: Die Schußwunde sei nicht von rechts nach links gegangen, wie amtlich erklärt worden, sondern von links rückwärts hinter dem Ohr nach oben, wo die Kugel am Kopf wieder hervorgetreten sei. Auch wären am Körper noch andere Wunden gefunden worden. Die Zertrümmerung der oberen Schädeldecke würde wohl dadurch erklärt, daß der Revolver ganz nahe an den Kopf gehalten gewesen wäre und die entweichenden Pulvergasse diese Verwüstung anrichten konnten, indessen sei diese Wirkung fraglich. Der Revolver, den man neben dem Bett gefunden, habe nicht dem Kronprinzen gehört, alle sechs Schuß seien abgeschossen gewesen.

Die Schußwunde des jungen Mädchens befinde sich nicht an der Schläfe, wie bisher behauptet wurde, sondern oben mitten auf dem Kopf. Auch sie soll noch andere Wunden gehabt haben.

Diese Details waren dem Nuntius schon vom Großherzog von Toskana und noch von anderer Seite mitgeteilt worden.

Hiemit will sich nun durchaus nicht reimen, daß viele Umstände dafür sprechen, daß der Selbstmord prämeditiert war, daß der Kronprinz durch Briefe, die er nachgewiesenermaßen noch in Wien geschrieben hat, seinen Tod vorher ansagte, und es ist namentlich nicht wahrscheinlich, daß er, wenn ein Kampf dem Tode vorausgegangen, noch so viel Zeit gehabt haben sollte, Herrn von Szögýeny zu schreiben und diesem seine Schlüssel zu schicken, die mir dieser am 1. Februar vormittags gezeigt hat. Den Brief habe ich allerdings nicht gesehen.

Ich darf noch hinzufügen, daß ich jetzt bestimmt weiß, daß Graf Hoyos und der Prinz von Coburg die beiden Leichen sofort nach Einbrechen der Tür gesehen haben, daß der Graf wirklich geglaubt hat, es liege Strychninvergiftung vor, wobei auch Bluterguß erfolgen soll, und daß er, ohne sich genauer zu überzeugen, nach Wien geeilt ist, um seinen Rapport zu erstatten. Beide Majestäten haben diese Lesart erfahren und bis zum anderen Morgen daran geglaubt. Deshalb hatte man auch versucht, den Tod einem Herzschlag zuzuschreiben.

Die Mutter des jungen Mädchens befindet sich in Venedig, wo sie mit dem Unglück ihrer Tochter gewissermaßen paradiert und durchaus kein Hehl aus dem Roman macht. Dies wirft ein deutliches Licht auf diese Person, welche behauptet, man habe ihr hier versprochen, wenn sie vor der Beisetzung verschwinde und schweigen würde, später alles zu veröffentlichen.


Quelle: Geheimer Bericht des deutschen Botschafters Prinz Heinrich Reuß an Bismarck vom 9. Februar 1889