DER STOCK IM SCHLOSSE ZU GREIFENSTEIN
(Variante der vorigen Sage)

Ein Burgherr des Schlosses Greifenstein hatte eine gar liebliche Tochter, zart von Gestalt und wunderschön, welche nach ihrer Mutter Tode ihre Tage einsam auf der Burg dahinlebte, denn ihr Vater schwärmte umher auf Abenteuer, Fehden und wilden Jagdritten. Der Burgkaplan war ihr einziger Gesellschafter, zugleich ihr treuer Lehrer, der ihrer Mutter am Sterbebette versprochen, sorgsam über das Ritterkind zu wachen.

Es kam jedoch die Zeit, wo die Minne sich in des Fräuleins Herz stahl, das für einen biedern, aber armen Jüngling schlug. Der Burgkaplan warnte zwar die Jungfrau väterlich, doch hinderte er nicht genug den Liebesaustausch der jungen und feurigen Herzen, und diese vergaßen sich in einer unbewachten Stunde so, daß die Folgen ihres Vergehens bald genug sichtbar wurden. Um diese Zeit sandte der Burgherr einen Knappen mit der Nachricht, er kehre baldigst heim und bringe auch einen Bräutigam für das Fräulein mit.

Diese Nachricht fuhr wie ein Donnerwort in das liebende und bekümmerte Mädchenherz; das Fräulein vertraute sich jammernd dem Burggeistlichen, der, von Mitgleid bewegt, sie durch einen unterirdischen Gang in eine Einöde führte und sie auf eine Zeitlang mit Lebensmitteln versah; dorthin eilte ihr Geliebter und lebte mit ihr.

Der wilde Ritter kam gleich darauf an. Er fragte nach der Tochter, sie war fort. Niemand wußte um ihr Verschwinden, niemand war bei ihr gewesen als der Kaplan. Der Ritter forschte drohend; der Kaplan kündete des Fräuleins Flucht mit ihrem Geliebten. Er sollte den Aufenthaltsort der Flüchtigen angeben, dies tat er nicht, und so ward er in den tiefsten Gefängnisturm geworfen, und der Ritter tat einen gräßlichen Schwur: nie wolle er seiner ehr- und tugendvergessenen Tochter verzeihen, nie den Pfaffen frei lassen, und wenn er eins von beiden tue, so solle ihn ein jäher Tod ereilen und sein Geist nimmer Ruhe finden.

Es vergingen nun Jahre. Der arme Burgkaplan seufzte im finstern Kerker, und die Liebenden lebten dürftig in dunkler Felsenhöhle, von Wild und Waldfrüchten und vom Wasser einer klaren Quelle.

Da begab es sich, daß der harte Ritter einst in dieser Einöde jagte und eine erbarmenswerte Gestalt erblickte, in Tierfelle gekleidet, die ihm winkte, ihr zu folgen. Er schritt dem wilden Manne nach, kam in die schaurige Höhle und erblickte, auf Tierfelle gelagert, einen Säugling an der Brust, von Lumpen bedeckt, sein Kind, seine Tochter, wie sie am Gebein einer erlegten Wölfin nagte. Da siegte in dem Ritter das menschliche Gefühl; er weinte und verzieh und hieß die Wiedergefundenen ihm folgen, uneingedenk seines Schwurs.

Der Gefangene hatte in seinem Kerker eine Schlange gezähmt, die sich ganz jung zu ihm gesellte. Das zarte Tier nährte sich von den Überbleibseln der geringen Kost, die jenem gereicht wurde. Endlich aber wuchs sie größer und immer größer und begehrte mehr; da erschlug sie der Kaplan mit einem Stock, als sie schlief, obwohl die Schlange im leid tat, und hing dann den Stock in einen Ring, der sich in der Kerkerwand eingemauert fand.

Als der alternde Ritter der Tochter verziehen hatte, gedachte er auch des gefangenen Greises. Er wollte diesem selbst die Freiheit wiedergeben, da erreichte ihn das durch seinen unbedachten Fluch beschworene Verhängnis. Er strauchelte auf der Treppe, stürzte herab und brach das Genick. Krampfhaft umklammerte noch, als man ihn fand, im Tode seine Hand den Schlußstein des Treppengeländers.

Sein irrer Geist soll nicht Ruhe finden, bis der Stock des Burgkaplans dem Ringe entfallen und der Stein des Treppengeländers von der Zeit morsch und mürbe geworden. Der Stab war noch zu sehen im Schlosse Greifenstein, als man 1809 schrieb; jetzt ist er verschwunden, aber der Treppenstein ist noch fest und hart.

Quelle: Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Österreich, Ludwig Bechstein, 1840