Die Legende vom Melkerkreuz

Das kostbarste und weitum meist verehrte Heiligtum des Stiftes Melk ist ein Goldkreuz, gar künstlich gefertigt, mit Perlen, edlem Gesteine und vielen Reliquien der Gottesheiligen überreich verziert, nach des Volkes Meinung des Wertes so groß, wie das ganze Stift mit allem, was drin, drum und dran. "Im Innern birgt es einen Splitter vom wahren Kreuzholze, einen halben Finger lang, aber nicht so dick; auf der Oberfläche hat er einen kleinen Ritz, in diesem sieht man recht lebhaft das teuerste Blut, welches daran für das Heil der Welt geflossen ist."

Wie ein frommer Mönch in einem 1774 zu Krems "bei Johann Carl Richter, Wienerischen Universität Buchdruckern" erschienenen Büchlein gar anmutig erzählt, hat Markgraf Adalbert, zubenannt der Siegreiche, das Melkerische Gotteshaus im Jahre nach des Herren Geburt 1045 mit erwähnter heiliger Partikel als einem überaus kostbaren Schatz beglücket.

Ist auch erforscht worden, es stamme dies so wertvolle Gut von dem heiligen Ungarkönig Stephan, dem es, wie zu vermuten, Erzbischof Adalbert von Prag, so sein Taufpate war, oder gar der heilige Vater Sylvester, seines Namens der Zweite, zum Zeichen höchsten Wohlgefallens an dessen wahrhaft christlichem Wirken mag verehret haben.

Nach des heiligen Stephan gottseligem Ableben ging das so hohe Gut als ein Kronschatz auf dessen Schwestersohn und Nachfolger Petrus und wiederum auf König Ovo oder Aba über, der es dem Markgrafen, nachdem er in einer Schlacht den kürzeren gezogen, nebst anderen Unterpfändern friedlichen Verhaltens zu eigen gab.

Wie nunmehr bekannt wurde, welch ausnehmendes Heiligtum das Melkerische Kloster durch des Markgrafen Huld berge, ward ein großer Zulauf des gläubigen Volkes zwecks andächtigster Verehrung und gar oft erhörter Bitten. Andernteils erwachte beim Anblick der kostbaren Fassung in manch einem das Verlangen, solchen Reichtum zu besitzen, und, wie denn kein Mensch vor Versuchung und Sünde gefeit ist, ein Geistlicher mit Namen Rupert wagte es, vom schimmernden Werte geblendet, seine gottesräuberischen Hände darnach zu strecken und selbes davonzutragen.

Ist nicht zu erkunden, durch welche Hände das geraubte Heiligtum des weiteren gegangen. Genug an dem ... nach Verlauf mehrerer Zeit ward ruchbar, das heilige Kreuz befinde sich im Kloster der Schotten zu Wien, eine Botschaft, die das in tiefste Trauer versetzte Melk zu fröhlicher Hoffnung aufrichtete und des Klosters Abt Sighard unverzüglich nach Wien eilen ließ.

Sei dem nun, daß Abt Finan, so damals den Schottenvätern vorstand, das Kreuz zu Recht erworben zu haben glaubte, sei es, daß sich sein Herz mit aller Macht an das Heiligtum klammerte und er selbes, wie auch Herzog Heinrich, zubenannt Jasomirgott, der Stadt Wien erhalten wollte, genug, er weigerte sich mit Einwendungen jeglicher Art, bis man übereinkam, erwählten Schiedsmännern den endgültigen Entscheid anheimzustellen. Diese aber beschlossen nach reiflicher Erwägung, den Entscheid in so wichtiger und unklarer Sache, wie in alten Zeiten öftere Gepflogenheit, Gott selbst zu überlassen. Stellten demnach das heilige Kreuz zwischen beide Herren Äbte auf einen Tisch, und siehe, es bewegte sich ohne jede menschliche Einwirkung zum Abte von Melk und schwang sich in seine Hand hinein. Es war jedoch bei den Wienern die Begierde nach solchem Schatze so groß, daß sie sich selbst ob diesem Wunder nicht zufrieden gaben, sondern heftig darauf drangen, zu mehrerer Gewißheit das Recht durch ein weiteres Los zu erforschen. Demnach ward das Kreuz auf ein Schiff gestellt mit der Bedingnis: so das Schiff auf dem Donaustrom nach dem natürlichen Laufe des Wassers Abwärts getragen würde, sollten die Wiener das Kreuz behalten, schwimme es aber ohne menschliche Beihilfe wider den Strom, so gehöre es von Rechts wegen für alle Zeiten dem Melkerischen Stifte. Und siehe abermals: der Herr, der die Gerechtigkeit liebt, trieb das Schifflein durch seinen allmächtigen Willen wider den Strom bis gen Nußdorf. So errangen die Melker durch Gottes Beistand den Sieg und das Kreuz ward unter tausend Freudenzeichen des herbeigeströmten Volkes in das von ihm selbst gewählte Heiligtum übertragen. Dies geschah am 13. Hornung des Jahres 1169 oder 70, und wird demnach an eben dem 13. Tage selbigen Monats alljährlich das Fest der Kreuz-Auffindung in dem so beglückten Stifte feierlich begangen.

Dieses durch solche Wunder noch mehr in Verehrung gekommene Kreuz hat sodann Herzog Rudolf der Stifter im Jahre 1363 noch weit kostbarer fassen lassen. Während aber das durch den Erlösungstod des Gottmenschen geheiligte Stücklein Holz seines neuen Schmuckes harrte, ward es nebst anderen Kostbarkeiten abermals entwendet, und zwar durch den Bürger Otto Grimsinger aus dem benachbarten Emmersdorf. Dieser schlechte Mensch hatte sich durch gefälligen Umgang die Zuneigung und das Vertrauen der Stiftsväter zu erwerben gewußt, selbes jedoch schmählich mißbraucht, indem er, während die Mönche ihren Gebeten oblagen, mittels nachgemachter Schlüssel in die Sakristei trat und nebst dem heiligen Kreuze, was immer ihm von Wert schien, fortraffte. Ja, um jeglichen Verdacht von sich fern zu halten, warf er die ihrer Zieraten beraubte Insel des Prälaten in eine Kammer, die er für des Priors Zelle hielt, und bezichtigte späterhin diesen unschuldigen Mann durch ein Schreiben, so er einem bestochenen Manne namens Petrus diktierte, der Freveltat.

Allein ... kaum war das Verbrechen begangen, offenbarte sich Gottes rächende Hand. Sogleich ergriff den Dieb eine schreckliche Angst und eine Schwäche der Glieder, daß er kaum imstande war, seinen Raub auf ein Schifflein zu bringen, in dem er stromabwärts gen Spitz und weiterhin zu flüchten gedachte. Währte aber nicht lange, so ward des Schiffes Lauf der Natur entgegen von einer unsichtbaren Gewalt gehemmt, und nur mit Aufbietung der letzten Kraft vermochte er, das Ufer zu erreichen, worauf er das geraubte Gut in seinem Hause barg. Die erschreckliche Angst und Unrast verließ ihn aber auch des weiteren nicht, er irrte, gleich dem ersten Mörder Kain allfort in Sorge vor Entdeckung, unstet umher und verbarg schließlich die heilige Partikel auf dem Altare der Muttergottes zu Laach am Jauerling.

Inzwischen hatten die Mönche, bei Entdeckung des verruchten Raubes tödlich erschrocken, der Sache eifrigst nachgespürt. Bald trat die Unschuld des Priors zutage, der bestochene Schreiber ward durch die Gleichheit der Schriftzüge überwiesen und nannte, ein wenig peinlich befragt, den Grimsinger als den Anstifter. So ward auch dieser gefänglich eingezogen und nach endlichem Bekenntnis des Raubes und anderer Missetaten, wie es vor Zeiten Rechtens war, mit Feuer zu Tode gebrannt.

Das teuerste Kreuzholz aber nahmen zwei Geistliche, so nach Laach gesandt wurden, ehrerbietig zu sich und kehrten damit, andächtiglich psallierend, über die Donau nach dem Kloster zurück. Daselbsten wurde die heilige Reliquie von Herrn Abt Radenbrunner und sämtlichen Mönchen und vielem Volke freudigst empfangen und in feierlichem Umgang unter Singen und Beten, unter einer herrlichen Musik und unter dem Schalle aller Glocken in sein früheres Behältnis getragen.

So geschehen den 6. des Christmonds im 1362sten Jahre. Seitdem halten die Söhne des heiligen Benedikt im Melkerischen Stifte ihre größte Kostbarkeit in sicherer Hut, also daß ähnliche Freveltat mit Gottes gnädigem Beistand für alle Zeiten wird hintan gehalten werden.

Quelle: Wachausagen, Erzählt und allen Freunden der goldenen Wachau gewidmet von Josef Wichner. Krems an der Donau. [1920]. S. 28 - 33.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Lisa Lemberg, Jänner 2005.