DER WANKELSTEIN BEI ZELKING

Im Tal der Melk, etwa zwei Gehstunden vom Städtlein Melk entfernt, erhebt sich an den bewaldeten Hängen des Hiesberges die malerische Burgruine Zelking. Hier herrschte um die Mitte des 14. Jahrhunderts reges Leben. Herr Albero aus dem angesehenen Rittergeschlecht der Zelkinger, war sich der Macht seines Hauses wohl bewußt und wollte dies der übrigen Ritterschaft und allen Besuchern seiner Burg höchst sinnfällig dadurch zum Ausdruck bringen, daß er sich einen Leibdiener von ungewöhnlicher Körperstärke beschaffte. Er ließ daher an die Söhne seiner Untertanen eine Aufforderung ergehen, sich im Schloß einzufinden und Proben ihrer Kraft zu geben; der stärkste von ihnen solle in seine Dienste treten.

Der Hof der Burg Zelking wurde zum Schauplatz dieser Kraftübungen ausersehen, und viele junge Burschen fanden sich ein, um ein Zeugnis ihrer Stärke abzulegen. Da konnte man gar kräftige junge Männer sehen, und vielerlei absonderliche Kraftproben versetzten die anwesenden Herren und Damen in Erstaunen. So war einer unter den Bewerbern, der warf ein Zentnergewicht dreimannshoch in die Luft, aber schon der nächste vermochte ihn zu übertreffen, indem er es sogar noch höher schleuderte. Einer hob ein Pferd vom Boden auf, ein anderer rückte einen vollbeladenen Wagen von der Stelle. Dann kam ein breitbrüstiger, stiernackiger Bursche an die Reihe, der Holz auf seinem Rücken hacken ließ, und der nächste lief mit dem Kopf an die Wand und brachte sie zum Einsturz - allerdings war es nur eine Bretterwand.

Ein stämmiger Junge aber war abseits stehengeblieben und schien alle diese Kraftäußerungen verächtlich zu beobachten. Das war nun Herrn Albero aufgefallen. Er trat zu dem Burschen und fragte ihn leutselig: "Nun, mein Lieber, willst du deine Kräfte nicht mit den andern messen, oder wird dir vielleicht bange, wenn du siehst, was jeder imstande ist?"

"Herr", gab der Bauernbursche zur Antwort, "ich bin bereit, meine Kraft zu erweisen, und habe keine Furcht, den andern nachzustehen. Im Gegenteil, was ich Euch als Probe meiner Kraft vorzeigen will, wird mir wohl keiner so bald nachmachen. Dort oben im Wald liegt ein mächtiger Felsblock, den sechs Männer mit ausgespannten Armen nicht umfassen können. Wenn es Euch recht ist, will ich ihn mit einer Hand in Bewegung setzen."

Man kannte den Stein und hielt es für unmöglich, den riesigen Block zu bewegen. "Junge", sagte einer der Gäste des Burgherrn, "hüte deine Zunge und unterstehe dich nicht, deinen Herrn mit deiner eitlen Großsprecherei mutwillig in den Wald zu locken!"

Der Junge aber beharrte auf seiner Behauptung und führte den Ritter, der sehen wollte, was an der Sache wahr sei, auf den Hiesberg. Viele Herren und Damen schlossen sich an. Es lag aber in der Nähe der Burg, eingeklemmt zwischen zwei spitzen Felsen, ein losgerissener ungeheurer Felsblock, der ein Gewicht von vielleicht siebenhundert Zentnern haben mochte: Er ruhte derart im Gleichgewicht, daß ein Knabe fähig war, ihn merklich zu bewegen, wenn er an der richtigen Stelle zugriff, während ihn sonst die vereinte Kraft von dreißig Männern nicht aus seiner Lage zu bringen vermochte. Der Junge wußte um dieses Spiel der Natur oder hatte es vielleicht sogar als erster entdeckt, jedenfalls setzte er vor den Augen des erstaunten Burgherrn und seiner Gäste den Felsblock in wackelnde Bewegung und erfüllte so sein Versprechen.

Dieser Beweis von Klugheit und List, verbunden mir aufrechter Bescheidenheit, gewann dem Burschen die Gunst des Schloßherrn und verschaffte ihm ohne weitere Kraftprobe die Stelle eines Leibdieners bei Albero von Zelking.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich, o. A., o. J., Seite 211