Das graue Weiberl von Wallsee

Der alte Zehethofbauer fuhr einmal in später Nacht mit seinem Roßfuhrwerk durch das Weitpyrha, einen Wald bei der Abzweigung von der Reichsstraße nach Wallsee. Da bemerkte er auf der Straße ein etwa fünfjähriges Mädchen. Er hielt an und fragte es, was es denn in so später Nacht hier tue und wo seine Eltern wären. Das Mädchen konnte diese Fragen nicht beantworten, nur seinen Namen, Mariedl, wußte es. Dem Bauern blieb nichts anderes übrig, als das Mädchen mitzunehmen. Die Bäuerin nahm das Kind liebevoll auf, und es wuchs mit ihren eigenen Kindern heran. Als Mariedl größer wurde, bekam sie eine eigene Kammer. Einmal gegen Mitternacht klopfte etwas wie mit einem beinernen Stöckerl an ihr Fenster und eine Stimme, wie von einem alten Weiberl, drang herein: "Dirndl, geh mit mir, ich zeige dir einen Schatz, den nur du sehen kannst. Sage aber keinem Menschen etwas, sonst geht es dir schlecht!" Mariedl zog die Tuchent über den Kopf, schwitzte vor Angst und gab keine Antwort. Anderntags merkte die Bäuerin, daß Mariedl so verstört war, bekam aber auf alle Fragen keine Antwort. In der nächsten Vollmondnacht kam das Weiberl wieder zum Fenster und sagte das gleiche Sprücherl. Mariedl verschloff sich wieder und war am nächsten Tage abermals still und bleich. Auf das Drängen der Bäuerin rückte sie endlich mit ihrem Geheimnis heraus. Da sagte die Bäuerin, sie solle das Weiberl fragen, ob der Hausknecht mitgehn dürfe. Als das Weiberl zum dritten Male erschien, nahm sich Mariedl die Schneid und fragte, ob der Hausknecht mitkommen dürfe. Das Weiberl bejahte es, und so holte Mariedl den Hausknecht und ging mit ihm bis vor ihr Fenster. Da stand ein Weiberl vor ihnen, tiefgebückt und in ein graues Gewand gehüllt. Es sagte nun, sie sollten mitkommen. Alle gingen nun bis zum Hauskreuzstöckel. Hier öffnete sich plötzlich ein Gang mitten in die Erde hinein. Jetzt sprach das WeiberI: "Dirndl, du darfst nur allein mit mir gehn, der Hausknecht muß warten." Mit vieler Angst löste sich das Dirndl vom Knecht. Nun flüsterte das graue Weiberl wieder: "Fürchte dich nicht! Was du auch im Gange sehn wirst, es kann dir nichts geschehen. Halte dich fest an meinen Kittel. Es werden dich wilde Katzen anpfauchen, von der Decke werden Schlangen auf dich herunterzüngeln, aber wenn du standhaft bleibst, wirst du den Schatz heben!" Da zappelte Mariedl einige Schritte in den dunklen Gang hinein. Jetzt kam es aber auf sie zu: ein Heulen und Pfauchen, ein Weinen und Winseln. Mariedl stieß einen Schrei aus, riß sich vom grauen Weiberl los, stürzte aus dem Gang hinaus und klammerte sich bebend und zitternd an den Hausknecht. Der Schatz blieb ungehoben, und das Weiberl kam nie wieder. (Mayr, Ornazeder.)

Quelle: Sagen aus dem Mostviertel, gesammelt von der Lehrerarbeitsgemeinschaft des Bezirkes Amstetten, Hrsg. Ferdinand Adl, Amstetten 1952, S. 63
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Mai 2006.
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