VOM HIRTEN AM SONNTAGBERG
Beim Eingang in die Kirche am Sonntagberg liegt eine Steinplatte, von einem eisernen Gitter umschlossen. Darauf sieht man in Stein gemeißelt ein Brot, daneben aus Holz geschnitzt einen Hirten mit seinen Schafen. Ehemals pflegten die Landleute hier weißes Brot zu opfern. Ein frommer Schafhirt weidete einst in der Umgebung seine Herde. Da hat sie sich eines Tages verlaufen und er kann sie nicht wieder finden. Emsig streicht er durch Busch und Wald, erklimmt manche Höh, und ruft nach allen Seiten hin; die Herde blieb verloren. Indes war der Tag zur Neige gegangen; die Sorge um das ihm anvertraute Gut ängstigt ihn, das lange Umherwandern hat ihn ermüdet. Er rafft seine letzte Kraft zusammen und besteigt in gläubigem Vertrauen den Zeichenstein, auf welchem später die Gnadenkirche erbaut wurde; er stand schon früher im Ruf, daß auf ihm Zeichen, d. i. Wunder gesehen. Dort wirft sich der Hirt auf die Knie und fleht, der Herr möge ihn das verlorene wieder finden lassen. Nach dem Gebete schläft er ein und erblickt im Traume den Ort, wo seine Herde weidet. Die Freude erweckt ihn, er eilt nach dem bezeichneten Orte und findet die Herde. Da erkennt er die wunderbare Gnade, die ihm der Herr erwiesen und ohne sich durch Speise zu erfrischen, eilt er mit dankbarem Herzen auf den Wunderstein zurück. Und sieh! Auf dem Steine, wo er zum Dankgebete kniet, liegt ein schönes weißes Brot; es war ihm zur Erquickung beschieden.
Kommentar: (Becker, Ötscher.)
Quelle: Carl Calliano, Niederösterreichischer Sagenschatz, Wien 1924,
Band II, S. 60