Das Feengras am Hundsheimer Berg
Vor vielen, vielen Jahren, als die Hundsheimer Berge noch ein wilder
und gefahrvoller Ort waren, lebte in einem kleinen Dorf am Fuße
des Hundsheimer Kogels (Anm.: Dabei soll es sich eben um Hundsheim gehandelt
haben) ein junger Mann.
Alle die ihn kannten, nannten ihn nur verächtlich den "Träumer",
da er viel lieber am Rücken im Gras lag, als den anderen bei ihrer
schweren Arbeit zu helfen. Sein Vater hatte deswegen großen Kummer
mit ihm und so beschloss er seinen Sohn zur Rede zu stellen.
"Mein Sohn", sagte er ernst. "Wenn du dir nicht einen anständigen
Beruf suchst, werde ich dich fortschicken müssen. Alleine kann ich
uns alle nicht ernähren."
Den Jungen trafen diese Worte schwer und er versprach hoch und heilig
eine Arbeit zu finden. Schon am nächsten Tag trat er vor den ortsansässigen
Schafszüchter und bot sich als Hirte für dessen Tiere an.
Der junge Mann stieg nun täglich mit einer Schafsherde zu den saftigen
Wiesen am Fuße der Südseite des Berges auf. Dort legte er sich
dann ins Gras und kümmerte sich nicht viel um die Tiere, sondern
ließ seine Gedanken wandern.
Einige Zeit ging alles gut, doch eines Abends, als der Junge wie gewohnt
zum Stall zurückkehrte, merkte der Bauer entsetzt, dass eines seiner
größten und prächtigsten Tiere fehlte.
Wütend schollt er den Jungen und wollte ihn gerade zur Tür hinaus
jagen, als plötzlich ein alte Frau vor ihm stand, die Kräuterhexe
des Dorfes.
"Wenn du dein Schaf wiederhaben willst", sprach sie, "dann
gib dem Jungen einen deiner Hunde mit und schick ihn am nächsten
Sonntag eine Stunde vor Mitternacht auf die Weide. Wenn du reines Herzens
bist, wirst du nicht nur dein Schaf, sondern auch ein kostbares Geschenk
erhalten."
Verwirrt versprach der Mann alles so zu tun, wie die Alte verlangte.
"Aber hüte dich dem Jungen zu folgen", fuhr das Kräuterweib
fort, "sonst wird es dir schlimm ergehen!"
Am nächsten Sonntag, es war das letzte Wochenende im Mai, rief der
Bauer den Jungen zu sich und befahl ihm sich eine Stunde vor Mitternacht
auf die Schafsweide zu begeben. Dieser war verwirrt, getraute sich aber
nicht nach dem Grund des Unterfangens zu fragen. Da der Schafszüchter
dem Burschen nicht vertraute, beschloss er im Stillen, ihm zu folgen und
ein paar seiner Gesellen mitzunehmen.
Kurz vor Mitternacht gelangte der Junge mit dem Hund seines Herren an
die Stelle, wo er das Schaf verloren hatte und setzte sich ins Gras. Es
war eine laue, windstille Nacht und die Sterne blitzten vom wolkenlosen
Himmel. Der Junge begann gerade einzudämmern, als er leises Lachen
vernahm. Hastig richtete er sich auf und blickte sich um. In einiger Entfernung
sah er einen schwachen, silbernen Lichtschein durch die Blätter der
Zweige huschen. Vorsichtig kroch er darauf zu. Als er den Kopf durch das
letzte Buschwerk schob, erblickte er auf einer Lichtung mehrere strahlend
hell leuchtende Gestalten, die scheinbar schwerelos über die Wiese
tanzten, dabei sangen und lachten. Der Junge erkannte, dass es wunderschöne,
aber fast durchscheinende Frauen waren. Verzaubert sah er ihrem bunten
Treiben zu. Da löste sich eine der Gestalten aus der Gruppe und trat
auf den Jungen zu. Ängstlich wollte dieser aufstehen und davonlaufen,
aber das Wesen sagte mit sanfter, lieblicher Stimme: "Hab keine Furcht.
Wir werden dir nichts tun. Komm, sing und tanz mit uns!" Dem Jungen
wurde das Herz leicht und er wusste, dass es genau das war, was er sich
wünschte. So nahm ihn die Frau an der Hand und führte ihn inmitten
die Schar fröhlich lachender Feen. Er fing an zu tanzen und zu singen,
sein Geist war frei und er wünschte sich, dass diese Nacht niemals
enden möge.
Aber sein Herr, der Schafszüchter, hatte sich mit seinen Gesellen
angeschlichen und beobachtete die tanzenden Gestalten. Es kam ihm so vor,
als wären die Feen über und über mit Gold und Silber behangen
und er glaubte zu verstehen, dass das das Geschenk war, was ihm die Alte
versprochen hatte.
Er befahl seinen Gesellen ihm zu folgen und gemeinsam stürzten sie
auf die Lichtung und griffen nach den Kleidern der Feen. Jedoch kaum hatte
der erste von ihnen den silbernen Glanz berührt, erstarrten er und
die anderen und konnten kein Glied mehr rühren.
Augenblicklich hörten die Frauen auf zu tanzen, ihr Singen und Lachen
verklang.
Die Fee, die den Jungen an der Hand genommen hatte, trat auf die Männer
zu und sagte: "Ihr seid mit Gier im Herzen hierher gekommen und werdet
erstarrt bleiben, bis ihr Büße getan habt, und ein anderer
euch erlöst."
Dann wandte sie sich an den Jungen. "Dich aber nehmen wir mit in
unser Reich, da du mit reinem Herzen zu uns kamst, mit uns getanzt und
gesungen hast".
Die Feen breiteten ihre weiß schimmernden Flügel aus und erhoben
sich, den Jungen in ihrer Mitte, in die Lüfte. Als sie aufstiegen,
stoben von ihren Körpern unzählige kleine, silberne Funken davon,
die durch die Luft gewirbelt und über die gesamten Hundsheimer Berge
verteilt wurden. Und überall dort, wo ein Funken den Boden berührte,
spross unvermittelt ein dünner, weiß glänzender und mit
silbernen Fäden behangener Halm - das Feengras.
In der Zwischenzeit war der Hund des Schafszüchters
ins Dorf hinuntergerannt und begann einen Heidenlärm zu schlagen,
sodass der gesamte Ort erwachte. Die Frau der Bauern erkannte in dem Hund
das Tier ihres Mannes und fürchtete ein Unglück. Auch den anderen
Dorfbewohnern war das Verhalten des Hundes unheimlich und sie beschlossen
einen Suchtrupp auf die Weide zu schicken.
Wie dieser aber auf die Wiese kam, blieben die Männer und Frauen
verwundert stehen, denn der Boden schien in einem silbern glänzenden
Licht zu erstrahlen. Und in der Mitte der Lichtung standen einige verwachsene
und seltsam gekrümmte Bäume, die vorher noch nicht da gewesen
waren.
verwachsener und seltsam gekrümmter Baum
am Hundsheimer Berg
© Mortimer
Müller, 2.Oktober 2003
Trotz tagelangem Suchen, blieben der Schafszüchter und seine Gesellen
verschwunden. An der Stelle wo die seltsamen Bäume wuchsen, ließ
die Frau des Bauern zum Gedenken an ihren verschollenen Mann ein Kreuz
aufstellen, das heute als das "Rote Kreuz" bekannt ist.
das sogenannte Rote Kreuz mit den vier
umgebenden Bäumen
© Mortimer
Müller, 2.Oktober 2003
das sogenannte Rote Kreuz mit den vier
umgebenden Bäumen
© Mortimer
Müller, 2.Oktober 2003
Auch der Junge wurde nie mehr gesehen. Jedoch geht die Sage, dass an klaren
und windstillen Tagen im Mai und Juni ein geheimnisvolles Singen und Lachen
über die Wiesen und Weiden des Hundsheimer Kogels tönt. Und
wenn man sich ganz still verhält, kann man auch silberne Lichter
in der Ferne tanzen sehen.
Das Feengras erscheint jedes Jahr im Mai und Juni und ist sowohl im Sonnen-, als auch im Mondlicht ein verzaubernder Anblick, der zum Rasten und Ruhen einlädt. Das Liegen im Feengras soll den Geist befreien und Krankheiten heilen können. Jedoch sollte man sich hüten im Feengras einzunicken, denn dann kann es passieren, dass man sich unvermittelt in der Feenwelt wiederfindet, aus der es bekanntlich keinen Rückweg gibt.
© Mortimer Müller, 07. August 2003
Quelle: Email-Zusendung von Mortimer
Müller, 07. August 2003, der die Sage in eigenen Worten niedergeschrieben
hat.