DER SCHATZ IM PROSEKSTEIN

Wo sich längs dem Ufer der rauschenden Gurk die Straße ins obere Gurktal zieht, beiläufig in der Mitte zwischen den Orten Gurk und Zweinitz, fängt der Weg etwas steiler zu werden an und führt über eine felsige Anhöhe, von der aus man ein liebliches Landschaftsbild zu schauen bekommt. Die Anhöhe wird der "Prosekstein" genannt und spielt in den Sagen des Volkes eine nicht unbedeutende Rolle.

Einst durchstreifte ein armes Weib mit seinem Kindlein am Arm bettelnd das obere Gurktal. Doch vor jeder Tür wurde sie abgewiesen und so sank sie, als sie zum Prosekstein kam, vor Hunger und Mattigkeit nieder; bald entschlummerten sie und das Kind. Es war gerade Johannistag. Da hatte die Bettlerin einen seltsamen Traum. Es schien ihr, der Prosekstein habe sich gespalten und Gold und Edelsteine in Masse blinkten daraus hervor. Als sie bald nachher erwachte, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen in der Felswand eine Tür, die offen stand und die sie früher nie gesehen. Unerschrocken trat sie in das Innere des Felsens und sah mit großen Augen, was ihr der Traum gezeigt hatte. In Haufen lagen Gold und Edelsteine und strahlender Karfunkel. Sie legte das Kind beiseite, nahm die Hände voll Kostbarkeiten und trat damit ins Freie. Jetzt wollte sie das Kind holen - doch welcher Schreck! die Tür war verschwunden und mit ihr das Kind. Weinend irrte sie umher, da trat plötzlich ein kleines, grünes Männlein mit langem grauem Bart hervor und sagte dem armen Weib, sie brauche sich um ihr Kind nicht zu sorgen, es sei gut aufgehoben; binnen Jahresfrist möge sie es holen. Nach diesen Worten verschwand der Zwerg. Die trauernde Mutter ergab sich in ihr Schicksal, baute sich von den gefundenen Reichtümern ein Häuslein und tat viel Gutes. So verging ein Jahr, der Johannistag kam, und die Mutter eilte nach dem Prosekstein, ihr Kind zu holen. Schon von weitem sah sie die Tür offen stehen und freudig trat sie in das Innere. Da lag das Kind an derselben Stelle, wo sie es im vergangenen Jahre hingelegt hatte; doch als sie es ans Herz drückte, sah sie, daß es tot war.

Von nun an lebte die traurige Mutter nur mehr still dahin und verwendete ihren Reichtum für Arme und Notleidende.

Franz Pehr, Kärntner Sagen. Klagenfurt 1913, 5. Auflage, Klagenfurt 1960, Nr. 22, S. 46