DER STUMME BÜßER ZU OSSIACH
Es war um 1080, an einem stürmischen Herbstabend, als ein Pilger
an die Pforten des Klosters zu Ossiach pochte und in der Zeichensprache
eines Stummen um Einlaß bat. Der Pförtner ließ den Gast
eintreten, man reichte ihm Abendbrot und wies ihm ein Nachtlager an. Als
man aber am Morgen erwartete, der Fremdling werde seinen Weg fortsetzen,
flehte er mit Gebärden den Abt Teucho an, im Kloster bleiben zu dürfen.
Zögernd willigte der Abt ein; aber nur zu den Diensten eines Knechtes
konnte er den Stummen verwenden. Willig fügte sich dieser in seine
armselige Stellung und verblieb im Kloster; geduldig, fleißig und
bescheiden wie wenige, erwarb sich der stumme Knecht die Zuneigung aller.
Im neunten Jahre aber erkrankte er schwer und fühlte, daß sein
Ende nahe bevorstehe.
Nun öffneten sich die lange verschlossenen Lippen des Sterbenden
und enthüllten den versammelten Mönchen das Rätsel seines
Standes und seiner Herkunft. Der stumme Knecht war Boleslaw II., der Polenkönig,
der sich als Herzog Boleslaw vom Deutschen Reich zur Zeit Heinrichs IV.
unabhängig gemacht und von seinen Bischöfen krönen hatte
lassen. Gegen seinen leichtfertigen Lebenswandel erhob sich bald mit kühnem
Freimute Bischof Stanislaus von Krakau, der, als sich sein grausamer Fürst
nicht bessern wollte, ihn aus der Gemeinschaft der Kirche ausschloß.
Von des Bischofs Kühnheit gereizt, sandte Boleslaw Söldlinge
aus, den frommen Mann in der Kirche zu ermorden. Doch diese wagten es
nicht, den schlimmen Auftrag auszuführen, und so brach der König
selbst mit einigen Begleitern in die Kirche ein und erschlug den Priester
am Altare. Jetzt jagten die Großen den Tyrannen aus dem Lande und
er fand keine Stätte, um sein müdes Haupt zur Ruhe zu legen.
Von Gram und Reue gepeinigt, beschloß er, nach Rom zu ziehen, dort
sein Gewissen zu entlasten und Aufhebung des Kirchenbannes zu erflehen.
Auf dem Wege dahin erreichte er Ossiach, dessen Weltabgeschiedenheit in
ihm den Entschluß reifen ließ, hier als stummer Büßer
sein Leben zu beschließen. Und jahrelang hielt er, wie eben erzählt,
getreu diesen Entschluß, bis er das Geheimnis am Sterbebette enthüllte
und den gerührten und erstaunten Mönchen die Geschichte seines
Frevels und seiner Sühne erzählte. Als Beweis der Wahrheit übergab
der König dem Abte seinen Siegelring mit dem königlichen Wappen.
Die Mönche ehrten das Andenken des stummen Büßers, wie
sie ihn nun nannten, dadurch, daß sie fortan Taubstumme in ihre
Obsorge nahmen und ihnen durch Zeichensprache Unterricht gaben.
Grabmal des Polenkönigs Boleslaus
II. im ehem. Benediktinerstift Ossiach
Römerzeitliches Relief mit Darstellung eines gesattelten Pferdes,
in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts für das Grabmal adaptiert.
Inschrift:
"REX BOLESLAUS POLONIAE OCCISOR SANCTI STANISLAI EPOSCOPI CRACOVENSIS"
Nach einer allerdings erst seit 1521 nachweisbaren Legende soll der Polenkönig
Boleslaus II. seine letzten Jahre als stummer Büßer im Kloster
verbracht haben und hier 1089 (?) gestorben sein.; Verehrung seiner Grabstätte
in Ossiach urkundlich seit 1615 belegt, aber sicherlich schon seit dem
16. Jahrhundert.
(DEHIO-Kärnten, S. 446 - 447, "Poloniae" ergänzt)
© Harald
Hartmann, 8. August 2005
Als man im Jahre 1839 das Grab, welches seine Überreste enthalten
sollte, öffnete, fanden sich darin Gebeine, eiserne Nägel und
eine Metallschließe, welche wohl einst das Pilgergewand des königlichen
Büßers geschlossen hatte. Die lateinische Inschrift in der
Klosterkirche lautet: "Boleslaus Rex Poloniae Occisor Sancti Stanislai
Episcopi Cracoviensis" (Boleslaus, König von Polen, Mörder des
hl. Stanislaus, Bischofs von Krakau).
Franz Pehr, Kärntner Sagen. Klagenfurt 1913, 5. Auflage, Klagenfurt 1960, Nr. 47, S. 98