Die Bärenmühle

Wohl ein jedes Wiener Kind kennt den Nachmarkt, den großen Obstmarkt auf der Wieden. Hier sah es einstens ganz anders aus als heute. Es gab eine Zeit, da floß die Wien noch nicht zwischen hohen Dämmen dahin, sondern nahm ihren Lauf frei durch Wiesen, Felder und Wälder. In der Nähe der heutigen Pilgrambrücke zweigte von ihr ein Mühlbach ab, der über den Naschmarkt führte und sich beim Karlsplatz wieder mit der Wien vereinigte. Dieser Mühlbach hatte die Räder mehrerer Mühlen zu treiben; die Namen zweier haben sich in den Straßenbezeichnungen Heumühl- und Schleifmühlgasse erhalten. Färber, Bleicher und Wäscher ließen sich in der Nähe der Wien nieder, an deren linkem Seitenarme bei der Pilgrambrücke auch eine Mühle, die Hofmühle stand. Von dort, wo sich gegenwärtig die Windmühlgasse hinzieht, winkten einige Windmühlen herunter. Auf Wind konnten sich die Windmüller ziemlich sicher verlassen; gibt es doch in Wien selten einen windfreien Tag. Die Mahlmühlen lagen am Rande dichter Wälder, die sich bis an die Wien erstreckten. In diesen Wäldern hielt sich damals allerlei Wild auf, sogar Wölfe und Bären hausten darin.

So sah es um Wien aus, als die Babenberger das Gebiet in harten Kämpfen den Ungarn abgerungen hatten und darangingen, das unwirtliche, aber fruchtbare Land urbar zu machen. Darum förderten sie die Gründung von Klöstern, denn die Mönche waren in der Bearbeitung des Bodens wohl bewandert.

Unter den Mühlen, die an der Wien lagen, befand sich auch eine Klostermühle auf einem unbebauten, von wildem Buschwerk umschlossenen Platze nahe dem heutigen Naschmarkt. An einem eiskalten Wintertage wagte sich ein stattlicher Bär in die Nähe der Mühle. Dort fiel er den Müllermeister an. Dieser, ein kräftiger Mann, setzte sich gegen seinen zottigen Angreifer tapfer zur Wehre, wurde aber von Meister Petz bald zu Boden gestreckt. Weithin erschollen die Angstrufe des Müllers. Einer seiner Knechte, der sich gerade im Obergeschoß aufhielt, vernahm unter sich das Hilfegeschrei seines Meisters. Eilig öffnete er ein Fenster und erblickte die entsetzliche Gefahr, in welcher sein Herr schwebte. Da galt es keine Zeit zu verlieren. Der treue Bursche wagte einen Sprung aus dem Fenster hinab, der so glücklich gelang, daß der verwegene Gesell wie ein Reiter auf den Bären zu sitzen kam. Kühn schlang er seine starken Arme um den Hals des Tieres und schnürte ihm die Kehle so fest zu, daß Petz aufröchelnd die fürchterlichen Pranken zurückzog.

Nun war es dem befreiten Müller ein leichtes, den Bären mit einer Axt zu erschlagen. So hatte des wackeren Knechtes Geistesgegenwart und rascher Entschluß dem Meister das Leben gerettet. Der Knappe verzichtete auf die angebotene reichliche Belohnung und erbat sich nur das Fell des Bären, aus dem er sich einen Pelz machen ließ, den er fortan täglich trug. Das Bild, das der gerettete Müller zur Erinnerung an sein grausiges Erlebnis an der Mühle anbringen ließ, ist heute nicht mehr zu sehen, aber das Gebäude führt noch heut den Namen Bärenmühle.

Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein, Hans Fraungruber, Wien, Stuttgart, Leipzig 1911
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2006.
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