Die Befreiung von den Zwingherren

In Tosters war es bis vor wenigen Jahren gebräuchlich, daß bei Prozessionen die jüngst verheiratete Frau vorausging, in der Mitte von zwei erst der Schule entwachsenen Mädchen, alle mit brennenden Kerzen in der Hand. In der Kirche war für sie ein eigener Betstuhl bereit, daher die Bezeichnung: „ins Stühle gehen".

Zu diesem Brauche erzählt das Volk: In alter Zeit hätten in den zerfallenen Burgen am Schellenberg arge Zwingherren gehaust. Viel Ueberdrang und Gewalt mußten die Bauern von ihnen leiden. Durch Kornäcker und mahdreife Wiesen jagten die Ritter mit Knechten, Rossen und Hunden, weder Eigentum, noch Unschuld schonten sie. Noch ist das schmähliche Recht der ersten Nacht nicht vergessen. Deshalb erhob sich endlich das Volk. An einem Funkensonntag stürmten und brannten sie die Burgen und erschlugen die Herren mit harter Hand und grimmigem Sinn. Am frohesten über diese Tat der Befreiung waren die Weiber. In ihrer Freude breiteten sie den Männern nach der Heimkehr vom Kampfe ein Mahl von Küchle und Milch.

Bei den Prozessionen ging von da ab in den Dörfern am Schellenberg stets die jüngst verheiratete Frau allen anderen voran zum Danke dafür, daß sie ihre Reinheit nicht mehr in roher Herren Gewalt opfern mußte und der jüngst verheiratete Mann trug die Fahne. Mehr als fünfhundert Jahre wurde dieser Brauch eingehalten. Erst in neuester Zeit ist er erloschen.

Quelle: Anna Hensler, in: Rund um Vorarlberger Gotteshäuser, Heimatbilder aus Geschichte, Legende, Kunst und Brauchtum, Bregenz 1936, S. 64