Zum Stehen verwünscht
Im Jahr Christi 1545 begab sich's zu Freiberg
in Meißen, daß Lorenz Richter, ein Weber seines Handwerks,
in der Weingasse wohnend, seinem Sohn, einem Knaben von vierzehn Jahren,
befahl, etwas eilends zu tun; der aber verweilte sich, blieb in der Stube
stehen und ging nicht bald dem Worte nach. Deswegen der Vater entrüstet
wurde und im Zorn ihm fluchte: »Ei stehe, daß du nimmermehr
könnst fortgehen!« Auf diese Verwünschung blieb der Knabe
alsbald stehen, konnte von der Stelle nicht kommen und stand so fort drei
ganzer Jahre an dem Ort, also daß er tiefe Gruben in die Dielen
eindrückte, und ward ihm ein Pult untergesetzt, darauf er mit Haupt
und Armen sich lehnen und ruhen konnte. Weil aber die Stelle, wo er stand,
nicht weit von der Stubentüre und auch nahe dem Ofen war und deshalb
den Leuten, welche hineinkamen, sehr hinderlich, so haben die Geistlichen
der Stadt auf vorhergehendes fleißiges Gebet ihn von selbem Ort
erhoben und gegenüber in den andern Winkel glücklich und ohne
Schaden, wiewohl mit großer Mühe, fortgebracht. Denn wenn man
ihn sonst forttragen wollen, ist er alsbald mit unsäglichen Schmerzen
befallen und wie ganz rasend worden. An diesem Ort, nachdem er niedergesetzt
worden, ist er ferner bis ins vierte Jahr gestanden und hat die Dielen
noch tiefer durchgetreten. Man hatte nachgehende einen Umhang um ihn geschlagen,
damit ihn die Aus- und Eingehenden nicht also sehen konnten, welches auf
sein Bitten geschehen, weil er gern allein gewesen ist und vor steter
Traurigkeit nicht viel geredet. Endlich hat der gütige Gott die Strafe
in etwas gemildert, so daß er das letzte halbe Jahr sitzen und sich
in das Bett, das neben ihn gestellt worden, hat niederlegen können.
Fragte ihn jemand, was er mache, so gab er gemeinlich zur Antwort, er
leide Gottes Züchtigung wegen seiner Sünden, setze alles in
dessen Willen und halte sich an das Verdienst seines Herrn Jesu Christi,
worauf er hoffe selig zu werden. Er hat sonst gar elend ausgesehen, war
blaß und bleich von Angesicht, am Leibe gar schmächtig und
abgezehrt, im Essen und Trinken mäßig, also daß er zur
Speise oft Nötigens bedurfte.
Nach Ausgang des siebenten Jahres ist er dieses seines betrübten
Zustandes den 11. September 1552 gnädig entbunden worden, indem er
eines vernünftigen und natürlichen Todes in wahrer Bekenntnis
und Glauben an Jesum Christum selig entschlafen. Die Fußtapfen sieht
man auf heutigen Tag in obgedachter Gasse und Haus (dessen jetziger Zeit
Severin Tränkner Besitzer ist) in der oberen Stube, da sich die Geschichte
begeben, die erste bei dem Ofen, die andere in der Kammer nächst
dabei, weil nachgehender Zeit die Stuben unterschieden worden.
Kommentar: Prätor.: Weltbeschreibung,
I, 659 - 661.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm),
Kassel 1816/18, Nr. 230