DAS GNADENBILD AUS DEM LÄRCHENSTOCK ZU WALDRAST

Im Jahr 1392 sandte die große Frau im Himmel einen Engel aus nach Tirol in die Waldrast auf dem Serlesberg. Der trat vor einen hohlen Lärchenstock und sprach zu ihm im Namen der Gottesmutter: "Du Stock sollst der Frauen im Himmel Bild fruchten!" Das Bild wuchs nun im Stock, und zwei fromme Hirtenknaben, Hänsle und Peterle aus dem Dorfe Mizens, gewahrten sein zuerst im Jahre 1407. Verwundert liefen sie hinab zu den Bauern und erzählten: "Gehet auf das Gebirg, da stehet etwas Wunderbarliches im hohlen Stock, wir trauten uns nicht, es anzurühren." Das heilige Bild wurde nun erkannt, mit einer Säge aus dem Stock geschnitten und einstweilen nach Matrey gebracht. Da stand es, bis daß ihm eine eigene Kirche zur Waldrast selbst gebauet wurde, dazu bediente sich Unsere Liebe Frau eines armen Holzhackers namens Lusch, gesessen zu Matrey. Als der eines Pfingsttags nacht in seinem Bett lag und schlief, kam eine Stimme, redete zu dreien Malen und sprach: "Schläfst du oder wachst du?" Und beim drittenmal erwachte er und frug: "Wer bist du oder was willst du?" Die Stimme sprach: "Du sollst aufbringen eine Kapelle in der Ehre Unserer Lieben Frauen auf der Waldrast." Da sprach der Holzhauer: "Das will ich nit tun." Aber die Stimme kehrte wieder zu der andern Pfingsttagnacht und redete mit ihm in der Maß als zuvor. Da sprach er: "Ich bin zu arm dazu." Da kam die Stimme zu der dritten Pfingsttagnacht abermal an sein Bett und redete als vor. Also hatte er dreier Nacht keine vor Sorgen geschlafen und antwortete der Stimme: "Wie meinest du's, daß du nicht von mir willt lassen?" Da sprach die Stimme: "Du sollt es tun!" Da sprach er: "Ich will sein nit tun!" Da nahm es ihn und hob ihn gerad auf in die Höhe und sagte: "Du sollst es tun, berate dich drum!" Da gedacht er: O ich armer Mann, was rat ich, daß ich's recht tue? und sprach, er wollte es tun, wo er nur die rechte Stätte wüßte. Die Stimme sprach: "Im Wald ist ein grüner Fleck im Moose, da leg dich nieder und raste, so wird dir wohl kundgetan die rechte Stätte." Der Holzhauer machte sich auf, legte sich hin auf das Moos und rastete (davon heißt der Ort die Rast im Walde, Waldrast). Wie er entschlafen war, hörte er im Schlafe zwei Glöckel. Da wachte er und sah vor sich auf dem Flecken, da jetzund die Kirche stehet, eine Frau in weißen Kleidern und hätte ein Kind am Arm, des ward ihm nur ein Blick 1). Da gedachte er: Allmächtiger Gott, da ist freilich die rechte Statt! Und ging auf die Statt, da er das Bild gesehen hatte, und merkt's aus nach dem, als er vermeinte eine Kirche zu machen, und die Glöckel klungen, bis er ausgemerkt hatte, hernach hörte er sie nicht mehr. Da sprach er: "Lieber Gott, wie soll ich's verbringen? Ich bin arm und habe kein Gut, da ich solchen Bau mit verbringen möge." Da sprach wiederum die Stimme: "So geh zu frommen Leuten, die geben dir wohl alsoviel, daß du es verbringst. Und wann es geschiehet, daß man es weihen soll, da wird es stillstehen sechsunddreißig Jahr, darnach wird es fürgäng und werden große Zeichen da geschehen zu ewigen Zeiten." Und da er die Kapelle anfangen wollte zu machen, ging er zu seinem Beichtvater und tät ihm das kund. Da schuf er ihn vor den Bischof gen Brixen, da ging er zu fünf Malen gen Brixen, daß ihm der Bischof den Bau und die Kapelle zu machen erlaubte. Das tat der Bischof und ist geschehen am Erchtag (Dienstag) vor St. Pankratius im Jahre 1409.

1.) Das heißt, er sah die Erscheinung nur einen Augenblick.


Kommentar: Tyroler Sammler, V, 1809, S. 151-265.
Aus der Volkssage und dem Waldraster Protokoll.
Quelle: Deutsche Sagen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), Kassel 1816/18, Nr. 348